Von der "Wurstlücke" zum konzernrechtlichen "Saumagen"
Nur Sonntagsredner glauben noch an die “Einheit der Rechtsordnung”, nämlich daran, dass die Regelungen in den einzelnen Rechtsbereichen, also etwa im Gesellschaftsrecht, im Steuerrecht und im Strafrecht, nicht widersprüchlich sind. Für den Bürger und für Unternehmen sind solche Widersprüche ganz und gar unerträglich. Schlimme Erfahrungen hat man in den letzten Jahren im Verhältnis des Europarechts zum nationalen Recht gemacht. Da ist die Leidensfähigkeit gewachsen. Besonders schmerzlich aber sind Widersprüche im eigenen, deutschen Recht. Dort droht neuerlich großes Unheil. So ist es nur schwer verständlich, was der Entwurf einer neunten Kartellrechtsnovelle bereithält. Was lange als unverbrüchliche und unstreitige Grundregel des Konzernrechts galt, soll nun im Kartellrecht auf den Kopf gestellt werden, nämlich der Grundsatz der Haftungstrennung. AufweichungstendenzenNach geltendem Konzernrecht haftet im faktischen Konzern das herrschende Unternehmen im Verhältnis zu Dritten nicht für die Verbindlichkeiten der Tochterunternehmen. Nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Lehre obliegen dem herrschenden Unternehmen auch keine Leitungs- und Überwachungspflichten im Verhältnis zu dem abhängigen Unternehmen, die bei schuldhafter Verletzung zu einer Schadenersatzpflicht führen könnten. Selbst im Vertragskonzern, also bei Bestehen eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags, haftet das herrschende Unternehmen nur konzernintern auf Verlustausgleich. Es haftet aber, von Ausnahmen abgesehen, auch in einem solchen Fall keineswegs unmittelbar gegenüber Dritten für die Verbindlichkeiten der Tochtergesellschaften. So sind die bewährten Regeln nach dem Konzernrecht.In den letzten Jahren ist dieses konzernrechtliche Trennungsprinzip vor allem durch Vorgaben aus Brüssel aufgeweicht worden. Exemplarisch ist dies bei Compliance-Verstößen im Kapitalmarkt. Verletzt eine Konzerngesellschaft etwa ihre Stimmrechtsmeldepflichten oder verstößt sie gegen die Marktmissbrauchsverordnung, ist der Gesamtkonzernumsatz die maßgebliche Bezugsgröße für die zu bemessende Höhe des Bußgelds (vgl. § 39 Absatz 5 Satz 2 Wertpapierhandelsgesetz).Auch im Kartellrecht gilt schon heute, dass sich die Bußgeldhöhe nach dem weltweiten Umsatz aller juristischen Personen bestimmt, die als “wirtschaftliche Einheit” operieren (§ 81 Absatz 4 GWB). Immerhin, am konzernrechtlichen Trennungsprinzip halten auch diese Bußgeldvorschriften fest: Sanktionsadressat ist allein der für den Rechtsverstoß verantwortliche Rechtsträger.Über das Trennungsprinzip völlig hinweggesetzt hat sich dagegen der Europäische Gerichtshof (EuGH) im europäischen Kartellrecht. Sind die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft Teil ein und derselben “wirtschaftlichen Einheit”, kann nach ständiger europäischer Rechtsprechung eine Geldbuße auch zu Lasten der Muttergesellschaft verhängt werden, “ohne dass deren persönliche Beteiligung an der Zuwiderhandlung nachzuweisen wäre” (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 10.9.2009, C-97/08 P). Über das Trennungsprinzip hinwegsetzen will sich nun auch das künftige deutsche Kartellbußgeldrecht. Systembruch mit SprengkraftEnde September 2016 hat das Bundeskabinett den Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) beschlossen (Bundesrat-Drucksache 606/16 vom 14.10.2016). Der Entwurf sieht eine verschuldensunabhängige Bußgeldverantwortlichkeit der Muttergesellschaft für Kartellverstöße von Leitungspersonen ihrer Tochtergesellschaften vor (§ 81 Abs. 3a GWB-E). Hiernach kann auch gegen die Muttergesellschaft unmittelbar ein Bußgeld festgesetzt werden. Auf einen eigenen Pflichtenverstoß oder sonst vorwerfbares Verhalten der Muttergesellschaft kommt es nicht an. Erst recht ist es nicht erforderlich, dass sie am Kartellverstoß der Tochtergesellschaft in irgendeiner Weise beteiligt war.Die bewusste Aufhebung des gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips im Kartellrecht hat weitreichende Folgen für das gesamte deutsche Gesellschafts- und Konzernrecht: Erstens: Ein rechtspolitisches Bedürfnis besteht für die neue Regelung nicht; denn die etwas grobschlächtig genannte “Wurstlücke” kann durch gezielte Rechtsnachfolgeregelungen geschlossen werden. Eingefangen wird damit das unschöne Verhalten eines Fleischwarenfabrikanten, der sich jüngst einem Bußgeld gegen eine Beteiligungsgesellschaft durch konzerninternen Umbau entzog. Das Bußgeld konnte im konkreten Fall wegen einer Lücke in § 30 Absatz 2a Ordnungswidrigkeitengesetz nicht vollstreckt werden.Der Entwurf sieht nun aber punktuelle Maßnahmen vor, um – etwas verkürzt formuliert – im Falle von Umstrukturierungen und Vermögensübertragungen die Geldbuße gegen den rechtlichen bzw. wirtschaftlichen Nachfolger festsetzen zu können. Um neuerliche Umgehungspraktiken zu verhindern, müsste zwar noch am Text gearbeitet werden. Das rechtfertigt aber keine überschießende Vernichtung eines tragenden konzernrechtlichen Grundsatzes. Rechtsstaatlich bedenklichZweitens: Eine verschuldensunabhängige Konzernhaftung ist rechtsstaatlich bedenklich, weil sie im Widerspruch zum Schuld- und Verantwortungsprinzip steht. Der Entwurf stellt dies zwar in Frage, weil sich juristische Personen nicht auf den Schuldgrundsatz berufen könnten. Jedenfalls komme das Übermaßverbot zum Tragen, da sich die Ahndung an der Schwere und Vorwerfbarkeit der Ordnungswidrigkeit messen lassen müsse. Doch käme es auf eine eigene Vorwerfbarkeit der Obergesellschaft im Anwendungsfall des neuen § 81 Abs. 3a GWB-E gerade nicht an.Drittens: Vor allem gibt der vorgelegte Regelungsvorschlag aber einen Grundsatz auf, der zum konzernrechtlichen Tafelsilber gehört. Die nächsten Schritte sind voraussehbar. Auch im Steuerrecht, im Sozialversicherungsrecht, im Geldwäscherecht sind Vorschläge zu erwarten, die Konzernmutter in die Mithaftung zu nehmen. Das Ende für das Trennungsprinzip ist absehbar. Warum sollte nicht auch der einfache Gläubiger der Tochtergesellschaft sich bei der Muttergesellschaft bedienen können? Es droht der konzernrechtliche “Saumagen”: Die Verbindlichkeiten aller Konzernunternehmen kommen in eine Wursthülle, und dafür haftet das konzernleitende Unternehmen.Viertens: Dabei macht das Trennungsprinzip guten Sinn. Es erlaubt der Holding eine dezentrale Konzernführung. In Zukunft geht das nicht mehr, wenn bei Rechtsverletzungen durch Konzerntöchter die Haftung der Mutter droht. Das Ende wird sein: Konzerne können nur noch straff zentral geführt werden. Nicht überzeugendFünftens: Verlangt ist zukünftig vor allem eine strikt konzernweite Compliance-Organisation, um die konzernweite Haftung zu vermeiden. Dabei ist konzernrechtlich offen, wie rechtlich und nicht nur faktisch die konzernweite Information gesichert und Compliance-Weisungen bei den Tochtergesellschaften durchgesetzt werden können.Fazit: Der rechtspolitische Vorschlag, im Kartellrecht konzernrechtliche Sonderregeln zu schaffen, überzeugt ganz und gar nicht.—-Uwe H. Schneider, Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens an der Universität Mainz —-Tobias Brouwer, Bereichsleiter Recht und Steuern beim Verband der Chemischen Industrie in Frankfurt