Wenn Anleger doppelt bluten müssen
Von Sabine Wadewitz, Frankfurt
Der Wirecard-Skandal hat neben der strafrechtlichen Aufarbeitung eine Welle an zivilrechtlichen Prozessen ausgelöst. Beim Münchner Landgericht läuft eine Klage des Insolvenzverwalters Michael Jaffé, der die mutmaßlich gefälschten Jahresabschlüsse 2017 und 2018 für nichtig erklären lassen und die Beschlüsse der Hauptversammlung zu den Dividenden beider Geschäftsjahre anfechten will.
Der 2020 zusammengebrochene Zahlungsabwickler hatte für die Geschäftsjahre 2017 und 2018 auf der Grundlage uneingeschränkt testierter Abschlüsse in Summe rund 47 Mill. Euro als Dividende an seine Anteilseigner verteilt. Ende 2018 war der ehemalige Vorstandschef Markus Braun, der in Untersuchungshaft sitzt, mit gut 7% größter Aktionär. Der überwiegende Anteil des Streubesitzes wurde nach damaligen Angaben von Wirecard von institutionellen Anlegern aus dem angloamerikanischen Raum und Europa gehalten. Für BlackRock waren 6,7% gemeldet worden, für Jupiter Asset Management 5,1%, für Citigroup 4,93% und für Artisan 3,0%.
Wenn Rückforderungen auf die Aktionäre zukämen, wäre es für sie nach dem Kursverfall ein weiterer Aderlass neben ihrem Vermögensverlust. Die Wirecard-Aktionäre selbst sollen im Insolvenzverfahren zum Ausgleich ihrer Kursverluste Forderungen von mehr als 12 Mrd. Euro angemeldet haben.
Schiffbruch in vielen Fällen
Auch in anderen Fällen sind Insolvenzverwalter bemüht, Dividenden zurückzufordern, um die Insolvenzmasse zu vergrößern. „Zur Rückforderung von Ausschüttungen zulasten der Anleger ist es in größerem Umfang in Insolvenzverfahren von Schiffs- und Containerfonds gekommen“, sagt Restrukturierungsexperte Frank Grell, Partner der Kanzlei Latham & Watkins. Diese geschlossenen Fonds waren in der Regel in der Rechtsform der Kommanditgesellschaft geführt. Insolvenzverwalter haben die auf die Kommanditbeteiligungen gewährten Gewinnausschüttungen dann von den Zeichnern der Anteile zurückgefordert. In diesen Konstruktionen habe man die Ausschüttungen insbesondere dann zurückfordern können, wenn man nachweisen konnte, dass es sich um Scheingewinne handelte, sagt Grell.
Bei den untergegangenen Schiffsfonds, wo in Scharen vermögende Privatanleger mit dem Versprechen steuerfreier Gewinnausschüttungen angelockt worden waren, ging es um große Summen. Hunderttausende Anleger aus Deutschland sollen in wenigen Jahren rund 30 Mrd. Euro in Schiffe investiert haben. Emissionshäuser legten einen geschlossenen Fonds nach dem anderen auf, das Risiko war den an Bord gegangenen Anlegern nicht bewusst.
Mehr als 500 Schiffsfonds sollen in die Insolvenz gegangen sein, was eine Prozesswelle nach sich zog. Ein aufsehenerregender Fall war die Pleite der P&R-Containergruppe im Jahr 2018. Dort zittern seitdem mehr als 50000 Gläubiger um insgesamt 3,5 Mrd. Euro. In einer ersten Abschlagszahlung bekamen die Gläubiger im Rahmen des Insolvenzverfahrens im Mai 2021 gerade mal in Summe über 200 Mill. Euro ausgezahlt. Auch bei den geprellten P&R-Anlegern hat der Insolvenzverwalter Rückzahlungsansprüche geltend gemacht. Die Gerichte haben in diesem Punkt bisher unterschiedlich entschieden.
Skandal Schneeballsystem
Ein weiteres prominentes Beispiel ist die zusammengebrochene Dresdner Infinus-Gruppe. Dem ehemaligen Finanzdienstleister, über den im Frühjahr 2014 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, wird vorgeworfen, ein Schneeballsystem etabliert zu haben und seine Anleger um hohe Millionenbeträge geschädigt zu haben. Auch hier ist der Insolvenzverwalter an mehrere Tausend Anleger mit der Forderung herangetreten, Zinsen aus Genussrechten sowie Dividenden zurückzuzahlen, weil es sich dabei um Scheingewinnausschüttungen gehandelt habe. Gegen die Rückzahlung haben sich mehrere Hundert Infinus-Anleger gewehrt, vertreten von der Kanzlei Flick Gocke Schaumburg.
„Wenn ein Gericht Jahresabschlüsse und Dividendenbeschlüsse für nichtig erklärt, sind die Dividendenzahlungen ohne Rechtsgrundlage erfolgt“, erklärt Christoph Merks, Rechtsanwalt bei Flick Gocke Schaumburg. Aktionäre hätten also eine Gewinnbeteiligung erhalten, auf die sie letztlich keinen Anspruch hatten. Würde dies gerichtlich festgestellt, wäre der Weg für den Insolvenzverwalter frei, von Aktionären die Dividenden aus dem relevanten Zeitraum zurückzuverlangen. Er müsste dafür an jeden einzeln herantreten.
Detektivarbeit
Nicht ganz einfach könnte es werden, die begünstigten Aktionäre überhaupt ausfindig zu machen. Im Fall Infinus sei es leicht nachvollziehbar gewesen, denn die Anteilseigner seien in Aktionärsregistern erfasst gewesen, weil es sich um Namensaktien handelte. So habe man feststellen können, wer zu welcher Zeit Dividende bezogen hat.
Bei Inhaberaktien und hohem Streubesitz wie im Fall Wirecard könnte es schwieriger sein, die Anleger zu identifizieren. Eine Möglichkeit bietet sich nach Darstellung von Merks, falls in Panik geratene Aktionäre wie andere Gläubiger Ansprüche im Insolvenzverfahren geltend machen wollen. Damit geben sie dem Insolvenzverwalter – vermutlich ungewollt – Anhaltspunkte, an wen er sich gegebenenfalls wegen der Rückzahlung wenden kann.
Aufschlussreich könnte für den Insolvenzverwalter auch sein, die hinterlegten Unterlagen zur Hauptversammlung einzusehen und darüber nachzuvollziehen, wer teilgenommen hat. Sofern die Aktionäre hier nicht von einem Intermediär vertreten wurden, müsste erkennbar werden, um wen es sich handelt. Auch wer sich Aufrufen von Kanzleien oder Aktionärsschutzvereinen zu Sammelklagen gegen Wirecard und das ehemalige Management anschließt, kann sichtbar werden, sofern sich aus den Unterlagen zur Klage Hinweise ergeben, wer zu welcher Zeit mit wie vielen Aktien bei Wirecard engagiert war. Ein weiterer Informationskanal kann sich ergeben, wenn ehemalige Anleihegläubiger auf Nachfrage des Insolvenzverwalters erklären, dass sie das Geld aus zurückgezahlten Bonds oder Schuldscheinen dann in Aktien des Unternehmens reinivestiert haben und damit im juristischen Sinne mit der Pleite doch noch „entreichert“ wurden, erläutert Merks.
Im Aktiengesetz, Paragraf 62, wird die Rückforderung empfangener Gewinnanteile insofern eingeschränkt, dass eine Verpflichtung nur bestehe, wenn die Aktionäre wussten oder infolge von Fahrlässigkeit nicht wussten, dass sie zum Bezug der Beträge gar nicht berechtigt waren. Da die Wirecard-Abschlüsse 2017 und 2018 uneingeschränkt testiert waren, sollten die Anteilseigner damals keinen Verdacht gehegt haben.
Kollision der Regularien
Der Insolvenzverwalter geht deshalb einen anderen Weg, erläutert Merks. Er stütze seinen Anspruch auf Rückforderung wie andere in solchen Fällen hauptsächlich auf eine insolvenzrechtliche Regelung, und zwar auf Paragraf 134 Insolvenzordnung. Danach kann eine Leistung angefochten werden, sofern sie unentgeltlich, also ohne Gegenleistung, erfolgte und die später insolvente Aktiengesellschaft sie in einem Zeitraum von bis zu vier Jahren vor Insolvenzantrag gewährte. Dieser insolvenzrechtliche Anspruch soll die Gläubiger davor schützen, dass sich ihr Schuldner zu ihrem Nachteil übermäßig freigebig zeigt. „Hier kollidieren zwei Rechte miteinander“, sagt Merks zu den gegenläufigen Regelungen in Aktien- und Insolvenzrecht.
Der Passus in der Insolvenzordnung stellt in Frage, ob Wirecard mit der Dividende etwas gezahlt hat, was das Unternehmen nicht gedurft hätte. Würde der Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung gerichtlich kassiert, fehlt die Rechtsgrundlage für die Ausschüttung. Das versetzt das Unternehmen in die Lage, das Geld vom Aktionär zurückzuverlangen. „Der insolvenzrechtliche Rückgewähranspruch hat einen bereicherungsrechtlichen Einschlag,“ sagt Merks.
Im Zusammenspiel der Regularien könnte der insolvenzrechtliche Anspruch jedoch durch das Aktiengesetz gesperrt sein, denn dort heißt es ja, dass der Anleger nur die Dividende zurückzahlen muss, wenn er gewusst oder infolge von Fahrlässigkeit nicht gewusst hat, dass sie bilanziell nicht verdient war. „Hier prallen aktienrechtlicher Anlegerschutz und insolvenzrechtlicher Gläubigerschutz zwingend aufeinander“, resümiert Merks
Rechtlich ungeklärt sei also, ob die Schutznorm des Paragrafen 62 im Aktienrecht dazu führt, dass Paragraf 134 der Insolvenzordnung nicht mehr greift. „Die Rechtsfrage, wie diese beiden Vorschriften zueinander stehen, ist gegenwärtig nicht geklärt.“
Falls sich die insolvenzrechtliche Sichtweise durchsetzen würde, wäre es aus Sicht von Merks „katastrophal für den Investmentstandort Deutschland“. Das Vertrauen in den Kapitalmarkt würde nach Meinung des Anwalts erheblich gestört, wenn Aktionäre um Dividenden bangen müssten, die sie in den letzten vier Jahren vor dem Insolvenzantrag von einem Unternehmen erhalten haben.
Infinus-Anleger lenken ein
Im Infinus-Verfahren habe das Landgericht Frankfurt am Main in einem von seiner Kanzlei erstrittenen Urteil den Vorrang des Aktienrechts gesehen, womit der insolvenzrechtliche Anspruch gesperrt wäre. Das Urteil sei aber nicht rechtskräftig, der Insolvenzverwalter ist in Berufung gegangen. Eine Entscheidung des OLG Frankfurt liege noch nicht vor, der Fall werde aber mit großer Sicherheit beim Bundesgerichtshof landen, meint Merks.
Aus seinem Mandantenkreis hätten einige Infinus-Anleger Dividenden zum Teil zurückgezahlt, jedoch nicht auf Basis eines zivilrechtlichen Urteils, sondern über einen Vergleich mit dem Insolvenzverwalter. Die Betroffenen hätten so Prozesskosten und endlose Rechtsstreitigkeiten vermeiden wollen.