Wenn die Modelle den Fluten nicht mehr standhalten
Die Schäden im Ahrtal sind auch Monate nach der Hochwasserkatastrophe Mitte Juli überall noch sichtbar. Der Wiederaufbau der gesamten Infrastruktur wird Jahre dauern. Für die deutschen Versicherer steht bereits fest, dass es die teuerste Naturkatastrophe in ihrer Geschichte wird – und das, obwohl weniger als die Hälfte der Hausbesitzer über die dafür notwendige Elementarschadenversicherung verfügten. Auf 8,2 Mrd. Euro haben die Versicherungsaufsicht BaFin und der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft das Schadenvolumen für die Assekuranz geschätzt.
Naturkatastrophen waren bislang ein Thema, mit dem sich vor allem Rückversicherer intensiv auseinander gesetzt haben. Doch mit der erwarteten zunehmenden Häufigkeit von Starkregen und heftigeren Stürmen fragen sich auch immer mehr Erstversicherer, ob ihre bislang eher groben Modelle noch ausreichen.
„Bernd“ hat ein Schlaglicht auf die Problematik geworfen“, sagt Onnen Siems von der Beratungsgesellschaft Meyerthole Siems Kohlruss (MSK). Der Versicherungsmathematiker berät viele kleine und mittelgroße Versicherer in aktuariellen Fragen. „Das Interesse an einer eigenen Modellierung nimmt zu.“
„Bisher wenig differenziert“
Bisher haben sich viele Erstversicherer in der Einschätzung von Naturgefahrenrisiken auf die Expertise der Rückversicherer verlassen. Doch da diese mit den Erstversicherern ins Geschäft kommen wollen, sind sie nicht unbedingt eine neutrale Quelle. „Kfz- und Sachversicherer werden im Pricing ihre Expertise bei Naturgefahren weiter professionalisieren müssen“, sagt Siems. Über ausgefeilte Modelle und viel Know-how verfügen fast ausschließlich die großen Player im Markt – neben den Rückversicherern, bei denen Naturkatastrophenrisiken zum Kerngeschäft gehören, ist das zum Beispiel die Allianz. Doch jetzt rückt die Frage nach besseren Abschätzungen auf die Agenda auch kleinerer Anbieter. MSK hat ein datengetriebenes Modell für Sturmgefahren konzipiert, das mittelständische Versicherer in die Lage versetzen soll, ihr eigenes Sturmrisiko neutral abschätzen zu können. In der Entwicklung befindet sich zudem ein Starkregenmodell.
Auch die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV) adressiert das Problem: „Die größte Herausforderung liegt darin, die Folgen des Klimawandels in versicherungstechnischen Modellen zu quantifizieren und Aussagen über zukünftige Schadenmuster zu machen, die letztendlich erst eine risikogerechte Preisfindung ermöglichen“, schrieb der Verband der Versicherungsmathematiker im Sommer bereits kurz vor der Flut. Schadenhistorien seien kein verlässlicher Indikator mehr für künftige Ereignisse. Es stelle sich die Frage nach einem angemessenen Umfang und der Qualität der Daten. Die DAV illustriert das Problem so: Klimaforscher projizierten über Jahre CO2-Konzentrationen, die Erderwärumg und deren potenzielle Auswirkungen auf die Natur. „Obwohl es mittlerweile sehr komplexe Modelle gibt, kann man momentan noch wenig konkrete quantitative Aussagen über die Auswirkung des Klimawandels auf die weitere Entwicklung von Naturkatastrophen und Extremwetterlagen machen“, skizzieren die Aktuare die Schwierigkeiten. „Es fehlt sozusagen noch die Brücke zwischen den die nächsten 30 bis 50 Jahre modellierenden Ansätzen der Klimaforscher und den kurzfristig, im Normalfall nur auf einen Ein-Jahres-Zeithorizont ausgerichteten Schadenmodellen in den Versicherungsunternehmen.“
Unterschätzte Risiken
Die Schadensummen durch Naturkatastrophen steigen jedenfalls beträchtlich. In den vergangenen fünf Jahren lag der Jahresdurchschnitt weltweit laut einer Statistik der Swiss Re bei rund 105 Mrd. Dollar, in dem Fünf-Jahres-Zeitraum zuvor waren es etwa 75 Mrd. Dollar.
Kapitalbedarf unter der Lupe
Die Ratingagentur Standard & Poor’s hält nicht nur kleinere Erstversicherer, sondern die eigentlich in Naturkatastrophenrisiken viel erfahreneren Rückversicherer für nicht ausreichend gewappnet. Die Branche verstärke zwar ihre Bemühungen, die Auswirkungen des Klimawandels in ihrem Risikomanagement, ihren Exposures und ihren Preisen zu berücksichtigen, heißt es. Doch dieser Prozess befinde sich bei vielen erst am Anfang und sei noch nicht ausgefeilt. In ihren Szenarioanalysen geht S&P davon aus, dass Rückversicherer ihr Exposure hinsichtlich Naturkatastrophenrisiken um 33 bis 50% unterschätzen könnten.
Auch die Versicherungsaufseher haben sich des Themas angenommen. Denn auch ganz andere Modelle könnten mit der Wirklichkeit nicht mehr Schritt halten können: So stellt sich die Frage, ob Naturkatastrophenrisiken im Standardmodell von Solvency II mit fortschreitendem Klimawandel noch angemessen berücksichtigt sind. Konkret ist zu klären, ob die heutigen Kapitalanforderungen den erwarteten größeren Schadenhäufigkeiten durch Starkregen und Stürme gerecht werden. Die europäische Aufsichtsbehörde EIOPA soll nach einem Vorschlag der EU-Kommission regelmäßig prüfen, ob die Kalibrierung von Naturkatastrophenrisiken in der Standardformel von Solvency II noch passt. Die deutsche Finanzaufsicht BaFin unterstützt dieses Ansinnen. Unabhängig davon will sie untersuchen, ob die Kapitalanforderungen für Versicherer, die regional sehr konzentrierte Risiken haben, ausreichend sind.
Austausch tut not
Allein können Versicherungsexperten die Modellierungsprobleme angesichts der Komplexität der Klimawandel-Effekte kaum mehr lösen. Ein Ansatz der Aktuare, das Problem der Modellierung in Zeiten des Klimawandels zu lösen, sind mehr Kooperationen. Ein interdisziplinäre Austausch zwischen Klimaforschern und Aktuarinnen und Aktuaren scheint daher dringend nötig.
Von Antje Kullrich, Düsseldorf