Frankfurt

Der Identität des Finanzplatzes verpflichtet

Know-how vor Ort und veränderungswillige Akteure sind essenziell für den Finanzplatz Frankfurt. Das lehrt die Geschichte, das zeigen aber auch aktuelle Herausforderungen.

Der Identität des Finanzplatzes verpflichtet

Das Jubiläum einer Institution am Finanzplatz ist immer ein willkommener Anlass für einen historischen Rückblick – vor allem für das in Frankfurt ansässige Institut für Bank- und Finanzgeschichte (IBF). Ist der Jubilar eine führende Finanzzeitung, gilt dies auf besondere Weise. Denn ähnlich, wie ein solches Organ den Akteuren über die reinen Finanzdaten und das aktuelle Tagesgeschehen hinaus Orientierung bietet, ist historisches Wissen und damit die Langfristperspektive, die das IBF einnimmt – wie es Thomas Ollinger anlässlich des IBF-Jubiläums 2019 mit einem Zitat von Roman Herzog ausdrückte – geeignet, vor einer „wuschelköpfigen Aufgeregtheit“ im Umgang mit den Herausforderungen der Gegenwart zu schützen.

Es liegt in dieser Logik, dass die Entstehung des IBF in den 1960er Jahren auf die Initiative eines Finanzjournalisten zurückging. Erich Achterberg war zwar nicht Redakteur der Börsen-Zeitung, aber ebenso wie diese verband er Berliner und Frankfurter Finanzplatzgeschichte, insofern er erst aus Berlin als Wirtschaftskorrespondent der Frankfurter Zeitung berichtet und nach dem Zweiten Weltkrieg die Redaktion der Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen mit aufgebaut hatte.

Das Interesse einer Finanzzeitung an der finanzhistorischen Forschung ist eben nicht rein feuilletonistischer Natur, wie sich auch umgekehrt Finanzhistoriker für Finanzzeitungen nicht nur als Teil der Infrastruktur eines Fi­nanzplatzes interessieren. Vielmehr nutzen sie diese als wichtige Quelle, da sie das Auf und Ab der Märkte widerspiegeln, Einblick in die Entwicklung der Institutionen und der regulatorischen Rahmenbedingungen geben und Aufschluss über das Netzwerk und die Narrative der Akteure bieten.

Die Narrative beziehungsweise die subjektive und die kollektive historische Erfahrung eines Finanzplatzes, seiner Institutionen und handelnden Personen besitzen häufig eine eigene Wirkungsmacht. Hier schützt die wissenschaftliche finanzhistorische Perspektive vor Missverständnissen und stellt identitäts- und orientierungsstiftende Deutungen vergangener Entwicklungen auf eine belastbare Grundlage.

Ein historisches Be­wusstsein spielte auch im Rahmen des Neubeginns am Frankfurter Finanzplatz nach dem Zweiten Weltkrieg eine Rolle – etwa zu der Zeit, zu der die Börsen-Zeitung vor siebzig Jahren hier ihre Arbeit aufnahm. Die Akteure bewegte das Motiv, an die frühere Bedeutung Frankfurts als Banken- und insbesondere als Börsenplatz anzuknüpfen, wenn auch andere Faktoren den Ausschlag dafür gaben, dass sich Frankfurt in wenigen Jahrzehnten zum wichtigsten deutschen und allmählich auch wieder zu einem bedeutenden internationalen Fi­nanzplatz entwickelte.

Die Voraussetzungen und bestimmenden Merkmale erfolgreicher Finanzplätze sind wissenschaftlich viel diskutiert worden. Für Frankfurt war es eine Art Initialzündung, dass im Januar 1948 entschieden wurde, die Bank deutscher Länder als neue Zentralbank – allerdings mit wesentlich geringeren zentralen Zuständigkeiten als die frühere Reichsbank – hier anzusiedeln, wofür neben der zentralen geografischen Lage sprach, dass Frankfurt Sitz der 1947 errichteten bizonalen Verwaltung war. Die Notenbank, die den Geldmarkt steuerte und zentrale Bedeutung für die Liquiditätsversorgung der Banken besaß, übte ebenso wie die bald erfolgenden Gründungen beziehungsweise erneute Geschäftsaufnahme bedeutender öffentlicher Banken Anziehungskraft zugunsten von Frankfurt aus.

Von der stabilitätsorientierten Ausrichtung der seit 1957 als Deutsche Bundesbank firmierenden zen­tralen Notenbank, die in Verbindung mit der Wirtschaftskraft Deutschlands die D-Mark zu einer der weltweit gefragtesten Währungen und bereits seit der Mitte der 1970er Jahre einer europäischen Leitwährung werden ließ, profitierte nicht nur der Frankfurter Finanzplatz, aber er tat dies stärker als die anderen deutschen Finanzplätze. Die wachsende Attraktivität der D-Mark bewirkte, dass internationales anlagesuchendes Kapital die Nachfrage nach deutschen Wertpapieren und insbesondere DM-Anleihen verstärkte.

Nach Aufgabe des Bretton-Woods-Systems fester Wechselkurse und im Zuge der nachfolgenden häufigen Deviseninterventionen der Bundesbank erhoffte man sich von der räumlichen Nähe zur Zentralbank frühzeitige Informationen über geld- und währungspolitische Entscheidungen. Die Devisenoperationen der Bundesbank waren an der Frankfurter Devisenbörse konzentriert. Die Stabilitätstradition und das damit verbundene internationale Prestige des Finanzstandortes entfaltete schließlich auch Wirkung in der Diskussion um den Standort der Europäischen Zen­tralbank (EZB), die 1993 zugunsten von Frankfurt ausging. 1998 nahm die Europäische Zentralbank hier ihre Arbeit auf.

Aus der Vielzahl der weiteren Erfolgsmerkmale des Finanzplatzes, die immer wieder Bewährungsproben ausgesetzt und gerade in Zeiten des Umbruchs nicht statisch zu verstehen sind, sondern Anpassungsfähigkeit erfordern, sei hier ein Aspekt herausgegriffen, mit dem sich das IBF in einer aktuellen Studie eingehend befasst hat: die Entwicklung einer leistungsfähigen Börseninfrastruktur, der Frankfurter Wertpapierbörse.

In der Wiederaufnahme des Börsenbetriebs in den Jahren nach dem Zusammenbruch 1945 schwang das Selbstbewusstsein des ehemals führenden Börsenplatzes mit. War die Institution der Frankfurter Börse 1585 aus ihrer Rolle eines wichtigen Handelsplatzes für Wechsel heraus entstanden, so gewann sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dank der Aktivitäten insbesondere der Bankhäuser Bethmann, Metzler und Rothschild über den Handel mit Staatsanleihen schließlich eine führende Stellung im Deutschen Reich.

Selbstbewusstsein bewahrt

Dass Frankfurt diese nach der Reichsgründung an Berlin verlor, war nicht auf mangelnde Kompetenzen oder eine veraltete Organisationsstruktur, sondern vor allem auf externe politische Faktoren zurückzuführen. Allerdings wird auch die größere Anziehungskraft Berlins als Emissions- und Handelsplatz für Aktien als Faktor genannt. Die Frankfurter Börse bewahrte sich trotz des Abstiegs in die Bedeutungslosigkeit im Zuge der nationalsozialistischen Kapitalmarktregulierung offenbar ihr Selbstbewusstsein und ihren inneren Kern, allerdings unter Preisgabe des jüdisch geprägten Teils ihrer Identität, der durch Gleichschaltung, Arisierung und Verfolgung ausgeschaltet wurde.

Konnte die Börse nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unmittelbar wieder aktiv werden und Berlin ihrerseits den Rang streitig machen, so verdankte sie dies freilich nicht nur der Resilienz der Organisation und dem Engagement von starken Persönlichkeiten am Finanzplatz, sondern auch den beschriebenen Rahmenbedingungen, die der Frankfurter Börse ungebrochenes Wachstum bescherten. Dass nachhaltiger Erfolg jedoch nicht ohne Innovationsbereitschaft und Wandlungsfähigkeit, die auch grundlegende Organisationsstrukturen be­traf, zu haben ist, beweist die jün­gere Geschichte der Frankfurter Wertpapierbörse, die sich die Änderungen im regulatorischen Umfeld und den technologischen Wandel schließlich zunutze zu machen verstand.

Angesichts der europäischen Kapitalmarktliberalisierung und unter dem Eindruck der Elektronisierung wandelte sich das Wettbewerbsumfeld und erkannten die Akteure, dass die notwendige Anpassungsgeschwindigkeit der Frankfurter Börse mit den verfügbaren Ressourcen und Strukturen als öffentlich-rechtliche Institution nicht zu erreichen war. Durch die Gründung der Deutschen Börse als finanzstarke Aktiengesellschaft und privatwirtschaftliche Trägerin der Frankfurter Wertpapierbörse konnte in der Folge eine dynamische Entwicklung eingeleitet werden, die diese zu einer im internationalen Wettbewerb anerkannt erfolgreichen Handelsplattform werden ließ, die gemeinsam mit der Derivatebörse und der Clearinggesellschaft eine hohe Marktkapitalisierung erreichte und auch im Hinblick auf Expansionspläne von sich reden machte.

Die beherrschenden Themen der Gegenwart wie die Digitalisierung und die Folgen des Klimawandels, die demografischen Veränderungen und das disruptive Ereignis der Covid-19-Pandemie sind nicht weniger umwälzend als die historischen. Sie fordern die Innovations- und die Wandlungsfähigkeit des Finanzplatzes auf immer wieder andere Weise. Wenn die finanzhistorische Analyse auch kein Rezept für den Umgang mit diesen Herausforderungen bietet, so zeigt die Finanzplatzgeschichte, dass es neben günstigen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen auch auf das herausragende Know-how vor Ort ankommt und auf Akteure, die tiefgreifende Strukturänderungen nicht scheuen, sich aber zugleich der Identität des Finanzplatzes verpflichtet fühlen.