Auto1-Banken lassen Retail-Anleger im Stich
Von Björn Godenrath, Frankfurt
Im englischen Sprachgebrauch hat sich mit „dumping on retail“ ein unschöner Begriff etabliert. Gemeint ist, dass Banken und institutionelle Investoren an gewissen Punkten einen Informationsvorsprung besitzen und das Marktgeschehen mit unilateralen Aktionen so steuern können, dass Retail-Anleger benachteiligt sind und Kursverluste erleiden – während die andere Seite Gewinne realisiert.
Kunden wehren sich
Diese Konstellation war es auch, die den Impetus lieferte für eine Gruppe von Kleinanlegern unter dem Social-Media-Handle „Wall Street Bets“, um sich gegen die Short-Spekulationen von Hedgefonds in Werten wie Gamestop zur Wehr zu setzen. Damit hatten sie erstaunlicherweise Erfolg: Die gesammelte Anlegerwut zwang die Hedgefonds in die Knie.
Anderen Kapitalmarkt-Mechanismen sind Privatanleger aber weiter schutzlos ausgeliefert. Das ließ sich im Juni beobachten, als urplötzlich Aktionäre der erst im Februar an die Börse gegangenen Auto1 Group SE Anteile auf den Markt warfen. Eigentlich waren für diese Aktien Lock-ups, also Haltefristen vereinbart. Das dient dem Schutz des Streubesitzes, ist der Handel von neuen Werten doch häufig volatil. Allerdings waren bei Auto1, wie so häufig, Soft Lock-ups vereinbart. Das heißt, mit Zustimmung der Konsortialbanken können Aktionäre schon vor Ablauf der eigentlichen Haltefrist Aktien verkaufen.
Bei Auto1 wäre diese Frist erst im August erreicht worden. Softbank, DST Global und Piton Capital warfen aber schon Anfang Juni Anteile auf den Markt, was den Kurs einknicken ließ. Mitte Juni sackte das Papier sogar unter den Ausgabepreis von 38 Euro. Mit dem Börsendebüt Anfang Februar waren die Papiere auf ein Hoch von 56,76 Euro gestiegen. Derzeit notiert die Aktie wieder bei etwas über 41 Euro.
Die Venture-Capital-Fonds haben jedenfalls ihre Schäfchen im Trockenen: Rund 9,7 Millionen Aktien wurden platziert, was einen Erlös von rund 400 Mill. Euro gebracht hat. In Finanzkreisen wird der Vermutung nicht widersprochen, dass die nach der Greensill-Pleite und folgenden Kollateralschäden angeschlagene Softbank treibende Kraft zur Aufhebung der Soft Lock-up war. Andere Altaktionäre zeigen sich im Hintergrundgespräch erbost über die Aktienverkäufe und bekunden, ihre Auto1-Anteile keinesfalls bald veräußern zu wollen – auch das Auto1-Management hat keine Aktien verkauft.
Warum kein Widerspruch?
Aber warum haben die Banken dem Ansinnen der VC-Fonds nicht widersprochen? Die Aufhebung von Haltefristen ist optional – und das Bedürfnis, vorschnell Kasse machen zu wollen, eine schwache Begründung, der die Hüter der Lock-up nicht zwangsweise folgen müssen. Konsortialbanken bei Auto1 sind BNP Paribas, Citigroup, Goldman Sachs und Deutsche Bank, die für die Emission mit einem Bruttoemissionserlös von 1 Mrd. Euro als Joint Global Coordinators und Joint Bookrunners fungierten. Da mit dieser Rolle auch ein gerütteltes Maß an Verantwortung für den Streubesitz einhergeht, haben wir die Institute gefragt, was sie dazu veranlasst hat, der Aufhebung der Soft Lock-up zuzustimmen.
Bei der Deutschen Bank, die sich als Einzige on the record erklärte, heißt es, alle vier Banken hätten dem Lock-up Waiver zugestimmt. In vielen Fällen gebe es Interesse von Aktionären, weitere Aktien im Anschluss an das IPO zu platzieren, öfters auch noch während der Lock-up-Periode. In solch einem Fall werde abgewogen, ob weitere Aktien und, wenn ja, welcher Betrag zu adäquaten Konditionen platzierbar seien, ohne die Performance der Aktie wesentlich zu beeinträchtigen. „Im konkreten Fall war die Folgeplatzierung (auch) deutlich kleiner als das IPO.“
Bei der Deutschen Bank gebe es für solche Fälle einen formalen Entscheidungsprozess, den man auch im konkreten Fall entsprechend eingehalten habe. Auch habe die Aktie zum Entscheidungszeitpunkt deutlich über Ausgabepreis gelegen, und auch der Platzierungspreis war deutlich über dem IPO-Preis. Zwar notiere die Aktie in den letzten Wochen etwas schwächer, doch dies sei im Vergleichszeitraum Werten aus dem Wachstumssegment nicht unähnlich.
Auf die Frage, wie der damit verbundene Effekt auf die Anlegerkultur einzuschätzen sei, gehen die Banken weder on noch off the record direkt ein. Der Waiver vor Ende der Lock-up-Periode sei nicht ungewöhnlich, solange der Platzierungspreis ausreichend über dem Ausgabepreis liege, heißt es übereinstimmend. Entsprechende Lock-up Waiver habe es auch in der Vergangenheit des Öfteren gegeben – im Hintergrund heißt es, bei jedem zweiten Börsengang werde die Lock-up aufgehoben.
Stabiler Handel
Weiter heißt es, dass die Aktie zum Zeitpunkt der Platzierung stabil bei 45 Euro gehandelt worden sei und man dann bei guter Nachfrage zu 41 Euro platziert habe. Es habe sich ausschließlich um frühe Aktionäre mit niedrigen Einstandspreisen gehandelt, die zur Begründung auch darauf verwiesen hätten, dass mit den zusätzlich frei handelbaren Anteilen die Liquidität in der Aktie erhöht werde. Im Verhältnis zur initialen IPO-Ticketgröße sei das Platzierungsvolumen von 400 Mill. Euro in Ordnung und bei der Nachfrage auch marktverträglich gewesen. Wenn Kurse unter Ausgabepreis notierten, würde man der Aufhebung von Soft Lock-ups nicht zustimmen, heißt es unisono. Alle Banken verweisen auf vordefinierte Prozesse – und werden auch künftig nicht anders vorgehen. Die Entscheidung hinsichtlich eines Lock-up Waivers sei immer eine Einzelfallentscheidung und hänge von mehreren Faktoren ab.
Eindeutige Interpretation
Im Fall der Auto1-Aktie wurde die Wirkung des auf den Markt strömenden Aktienüberhangs von Experten eindeutig interpretiert: Als die Aktie Mitte Juni ihre Talfahrt fortsetzte und unter den Ausgabepreis sackte, erklärte Analyst Tom Diedrich vom Bankhaus Metzler, er sehe den Grund für die Kursverluste „weiterhin vor allem im früheren Auslaufen der Haltefrist für Altaktionäre, die eigentlich bis August hätte andauern sollen“.
Daniel Bauer von der SdK Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger erklärt auf Anfrage, aus ihrer Sicht sei die Soft Lock-up als bilaterale Vereinbarung wertlos. Nur harte Lock-ups würden Sinn ergeben. Soft Lock-ups dienten vor allem den Konsortialbanken dazu, sich selbst abzusichern für den Fall, dass sie bei einem IPO Aktien aufs eigene Buch nehmen müssten und auf diesen Stücken sitzenblieben, – und so könnten sie diese ohne viel Aufhebens in den Markt geben.
Für Privatanleger bedeutet dies, dass sie auch in Zukunft in der Phase nach Notierungsaufnahme besonders auf der Hut sein müssen – und ihre Investment-Strategie so gestalten, dass ein Aktienüberhang noch vor Ende der (weichen) Haltefristen auf dem Kurs lasten könnte. Das kann zum Meiden der Zeichnung von IPOs in Retail führen – und das, wo doch gerade so viele Anleger neu an den Aktienmarkt kommen. Die Banken müssen wirklich sehr behutsam vorgehen, wenn sie Haltefristen freigeben – und die zu sehr niedrigen Preisen eingestiegenen Venture-Capital-Investoren sollten ohne echte Not nicht frühzeitig Kasse machen. Für den Privatanleger ist es kurzfristig ein schwacher Trost, dass dann die Liquidität in der Aktie höher ist.