Déjà-vu der Dotcom-Blase
Erst Tech-Boom, dann Tech-Bust. Über beides wurde wahrlich vieles – möglicherweise gar alles – gesagt. Was also ist überhaupt dieses „Tech“, von dem alle reden? Ein Monster, das zum Überleben den guten Menschen ihr gutes Geld aussaugt – quasi ein Super-Dracula? Vielleicht aber auch nur der verzogene Balg der klassischen Wirtschaft, der gezähmt werden muss? Und was bedeutet das für Kapitalgeber?
Fakt ist, dass Technologie und die damit einhergehende Digitalisierung zu allen Bereichen unserer Lebenswirklichkeit gehört. Ob in unserem privaten oder beruflichen Leben, ohne die Digitalisierung ist vieles nicht denkbar. Und der Einfluss, den die Digitalisierung auf unsere Lebenswirklichkeit nimmt, steht erst am Anfang. War die Digitalisierung ursprünglich für unsere „Convenience“ verantwortlich, so hat sie heute eine Eigendynamik entwickelt, entwickelt neue Zukunftsoptionen und realisiert dann auch gleich selbst. Und eben diese Gestaltung braucht Kapital. Das über Kapitalmärkte und private Kapitalgeber bereitgestellte Geld reflektiert nichts anderes als Erwartungen über die Gestaltung der Zukunft.
Und die Zukunft sieht düster aus – so zumindest steht es in vielen ökonomischen Tabellen und Kurven. Die einschlägigen Technologieindizes beispielsweise sind seit Jahresbeginn um rund 30% gefallen. Das bekommen nicht nur die ehemaligen Börsenstars zu spüren, sondern auch die Wachstumsfirmen im privaten Bereich. Das weltweite Volumen der Wachstumsfinanzierungen für nichtbörsennotierte Unternehmen sank laut der Datenbank Crunchbase im April 2022 auf ein 12-Monats-Tief von 47 Mrd. Dollar.
Schon wieder Dotcom?
Bei diesen Kurvenverläufen scheinen viele, im Besonderen erfahrenere Investoren, eine sich wiederholende Geschichte zu erkennen. Ein Déjà-vu der Dotcom-Blase. Wird aber in der Analyse das Psychologische von dem Logischen und das Subjektive von dem Objektiven getrennt, ergibt sich ein anderes Bild und damit eine andere Zukunft – eine ermutigendere als die, die sich in Börsenkursen ablesen lässt.
Die psychologische Untersuchung beginnt mit der Mustererkennung. Die Forschung hat das „Wiedererkennen“ analytisch in drei Schritte unterteilt: Erstens, wir erleben etwas. Zweitens, das Gehirn ruft parallel zu unserem Erlebnis Erinnerungen aus der Vergangenheit ab und gleicht diese mit den neuen Eindrücken ab. Und wenn es eine Übereinstimmung gibt, dann setzt das Gehirn im letzten Schritt das Signal „Kenne ich schon“ ab. Ein Déjà-vu lässt sich nun so erklären, dass sich das Gehirn im letzten Schritt gelegentlich verselbständigt und die Meldung „Kenne ich schon“ abfeuert, ohne dass es einen Anlass dafür gibt.
Geschäftsmodelle intakt
Dass ökonomische Fundamentaldaten und Börsenkurse ein Déjà-vu hervorrufen, ist somit psychologisch nachvollziehbar. In der logischen Analyse ergibt sich jedoch ein anderes Bild: Auch wenn die Frage nach der richtigen Bewertung einiger Tech-Unternehmen gestellt werden kann, sind die Geschäftsmodelle in vielen Fällen praxistauglich und wertschaffend. Ihre digitalen Angebote sind nicht nur heute von Relevanz, sondern auch zukünftig. Dieser Trend wird sowohl vom demografischen Wandel als auch von sich änderndem Kundenverhalten unterstützt.
So haben etwa Unternehmenskunden anders als Privatkunden einen großen Bedarf an maßgeschneiderten Lösungen, die ihrer Größe, ihrem Geschäftsmodell und ihrer finanziellen Situation entsprechen. Weil individualisierte Lösungen für große Anbieter aus Kostengründen in der Vergangenheit oft nicht darstellbar waren, besteht hier großes Marktpotenzial. In diese Lücke sind Fintechs und Insurtechs gestoßen, die mit fortgeschrittenen Datenanalysen und künstlicher Intelligenz in der Lage sind, ihre Datenhaushalte in hoch individualisierte und zielgenau bepreiste Angebote umzumünzen.
Zugleich verfügen sie auch über neue Kreditscoringmodelle, die teils deutlich leistungsfähiger sind als das, was traditionelle Banken einsetzen. Das US-Insurtech Pie Insurance beispielsweise ist dank einzigartiger Datenhaushalte und -analysen gerade dabei, den US-Markt für Arbeitnehmerunfallversicherungen zu revolutionieren, weil es jedem Unternehmen in kürzester Zeit ein maßgeschneidertes und oft unschlagbar günstiges Angebot machen kann.
Vor 20 Jahren zeichnete sich ein anderes Bild ab. Manche Geschäftsmodelle existierten lediglich auf dem Papier, hatten weder Kunden noch Umsätze, wagten aber den Gang an die Börse. Heutige Investoren sind meist erfahrener und versierter und würden solche Unternehmen weder beim Börsengang begleiten, noch würden sie ihnen blind Kapital zur Verfügung stellen. Der kurze Boom der Spacs mag dieser Aussage auf den ersten Blick widersprechen, doch tatsächlich war er genau das: ein kurzlebiger Hype, der nach seiner Hochphase eine für den Gesamtmarkt gesunde Abkühlung erlebt hat.
Spacs mögen prototypisch für zeitweise Übertreibungen im Markt stehen, doch sie stehen nicht für den Markt insgesamt. Die Geschäftsmodelle der meisten von namhaften Investoren unterstützten Techfirmen basieren auf fundamentalen Veränderungen verschiedener Lebensbereiche und Wirtschaftssektoren, sind also durch reale Entwicklungen begründet. Ein Unternehmen wie Netflix mit 250 Millionen Abonnenten mag heute am Markt nicht den Wert haben, den es vor einigen Monaten hatte. Mit Sicherheit ist es aber ein wertvolles Unternehmen.
Damit kommen wir zur subjektiven Analyse und beginnen mit der Frage, warum die Tech-Euphorie ihr vorläufiges Ende gefunden hat. Lediglich die externen Einflussfaktoren wie beispielsweise die Inflation, den Anstieg der Zinserwartungen oder den generellen Rückgang des Investorenvertrauens durch den Krieg in der Ukraine aufzuzählen, wäre zu kurz gegriffen. Diese externen Impulse waren nur die Auslöser einer Korrektur, die überfällig war. Viele Wachstumsfirmen haben viel zu lange auf die Strategie „Wachstum um jeden Preis“ gesetzt. Nun, da Kapital teurer wird, wird das Funktionieren dieser Strategie als Chimäre entlarvt. Die Bewertungsabschläge mögen mancherorts übertrieben sein und nehmen viele andere Wachstumsunternehmen in Sippenhaft. Manche der Gesellschaften, die es noch nicht geschafft haben, sich ausreichenden Rückhalt der Investoren aufzubauen und das Funktionieren ihres Geschäftsmodells nachhaltig zu belegen, werden wahrscheinlich verschwinden. Die Digitalisierung aber wird bleiben.
Zeit für einen Einstieg
Objektiv betrachtet bringt dieser Wandel neue strategische Möglichkeiten mit sich. Diese liegen erstens bei denjenigen jungen Tech-Unternehmen, die sich in ihrer Reife noch deutlich vor dem Börsengang befinden, aber bereits ein Alleinstellungsmerkmal besitzen, das ihnen das Potenzial zur Disruption ihrer Branche verleiht. Das eben genannte US-Insurtech Pie ist eines von vielen Beispielen. Bei solchen Firmen sind jetzt teils günstige Einstiegszeitpunkte erkennbar. Hinzu kommt, dass viele Wachstumsfirmen heute später an die Börse gehen, so dass Kapitalgeber bei nichtbörsennotierten Firmen in der Tendenz größere Portionen der Wertschöpfung als Rendite für sich vereinnahmen können.
Die zweite große Chance offenbart sich für bereits etablierte Marktteilnehmer: Sie können nun, da einige junge Angreifer unter Druck geraten sind, Talente abwerben, technologieaffine Manager rekrutieren und so im Kampf um die besten Köpfe wieder Boden gutmachen.
Und drittens haben die eher traditionellen Unternehmen nun eine perfekte Gelegenheit, um selbst zu Disruptoren zu werden. Sie können mit ihrer überlegenen Ressourcenausstattung und ihrem langen Atem den Raum der in Schwierigkeiten geratenen Wachstumsfirmen einnehmen – und zugleich davon profitieren, dass die jungen Unternehmen die Lücken im Markt sichtbar gemacht haben.
Die Chancen im globalen Tech-Ökosystem sind immens. Wir werden neue Arten von Angreifern sehen. Einige werden aus der „alten Garde“ kommen. Jetzt heißt es, sich nicht von der angekratzten Marktstimmung zu einem vorschnellen Abgesang auf „Tech“ im Allgemeinen und „Fintech“ im Speziellen verleiten zu lassen, sondern mutig zu bleiben. Die neue Generation der Wachstumschampions entsteht jetzt.