„Der Wunsch nach persönlichem Kontakt bleibt stabil“
Herr Heinemann, die Allianz will stärker wachsen. Wie kann das in der Online-Welt gelingen?
Die Menschen machen sich mithilfe von vielerlei digitalen Oberflächen schlau. In mehr als 80% aller Kaufentscheidungen, die unsere Kunden treffen, steckt eine digitale Komponente. Interessanterweise enthalten aber die meisten dieser Kundenreisen auch mindestens einen Kontakt mit einem Menschen. Eine erfolgreiche Wachstumsstrategie braucht also digitale und persönliche Elemente.
Ein bisschen digital und ein bisschen Human Touch?
Das reicht nicht. Man muss beides vollständig liefern können. Dies bedeutet: Eigentlich sollte alles digital verfügbar sein. Aber gleichzeitig hat bei Bedarf der persönliche Kontakt bereitzustehen, und zwar für jeden Kunden ein bisschen anders. Es ist ein Phänomen, dass unseren Kunden der Austausch mit einem Menschen so wichtig geblieben ist. Dies gilt übrigens auch in völlig anderen Branchen als der Versicherungswirtschaft.
Verändern generative KI-Modelle dies?
Ob diese ganz neue Technologie zum ersten Mal eine Verschiebung hinkriegt, traue ich mich noch nicht zu beurteilen. Es ist eine Frage, die mich umtreibt. Ich würde sie weder kategorisch bejahen noch verneinen. Mit generativer künstlicher Intelligenz kann man allerdings eine Kommunikation erzeugen, die dem Dialog von Menschen ähnelt.
Wie erklären Sie den Bedarf nach persönlichem Kontakt?
Wer den Kauf einer Police erwägt, der verlangt solche Dinge wie Kompetenz, ein hervorragendes Produkt und die gute Erreichbarkeit des Versicherers. Diese Hard Facts sind daher total wichtig, tragen aber am Ende nur hälftig zur Entscheidung bei.
Welche Faktoren gibt es noch?
Zwei Soft Facts haben das gleiche Gewicht. Erstens: Vertraue ich der Firma und dem Vermittler der Police? Vertrauen ist ganz entscheidend. Der Käufer will – zweitens – das Gefühl haben, dass er wirklich im Mittelpunkt des gesamten Prozesses steht. Diese beiden Elemente sind schwer zu digitalisieren. Dies ist die tiefere Erklärung dafür: Der Wunsch der Kunden nach persönlichem Kontakt bleibt stabil.
Was ist in diesem Umfeld zu beachten?
Die Allianz hat sehr früh auf die Idee gesetzt, beide Varianten zu bieten. Dabei muss jedes Unternehmen berücksichtigen: Die Menschen sind jetzt selbstständiger unterwegs und in gewisser Weise weniger treu. Wenn sie im Netz auf einen anderen Anbieter stoßen, dann ist das für sie manchmal auch gut. Diese Erfahrung macht man ja selbst bei Besuchen in Restaurants oder der Wahl eines Reiseveranstalters. In diesem Umfeld gibt es drei Voraussetzungen für den Erfolg. Erstens benötigt man eine Marke, die bekannt ist, aber vor allen Dingen auch relevant.
Was ist mit Relevanz gemeint?
Ich könnte Sie auffordern, fünf Namen von Versicherern aufzuschreiben, die Sie für eine Absicherung anschauen würden. Die Frage für mich ist dann: Sind wir dabei? Strahlkraft und Anziehungskraft einer Marke sind megabedeutend. Die Allianz steht auf Platz 29 der wertvollsten Marken der Welt. Vor uns steht keine andere Versicherung, und nur zwei Finanzdienstleister sind besser platziert. Das hilft. In dieser Kategorie sind wir sehr gut.
Welches ist die zweite Voraussetzung?
Der zweite Ansatz ist: Wie zufrieden sind die Menschen mit unserer Leistung? Weltweit stehen die Segmente der Allianz in mehr als 50% der Fälle an der Spitze ihres jeweiligen regionalen Marktes.
Ist Kundenzufriedenheit nicht trotzdem ein alter Hut?
Natürlich hat dieser Faktor schon immer eine Rolle gespielt. Er ist aber deswegen immer wichtiger geworden, weil die Zufriedenheit oder auch die Verärgerung der Kunden in der Welt von Instagram&Co. viel sichtbarer sind als früher.
Wie steigern Sie die Zufriedenheit?
Wir messen permanent, ob unsere Leistung so gut ist, wie sie sein sollte. Es reicht nicht, dass die Mitarbeiter einmal im Jahr hören, wie hoch die Kundenzufriedenheit ist. Wir wollen an jedem Berührungspunkt mit den Kunden Feedback sammeln, damit die Mitarbeiter die Reaktion unmittelbar erleben. Wenn es von fünf Sternen nur drei oder weniger gibt, versuchen wir den Kunden noch mal zu kontaktieren, um zu verstehen: Woran lag es denn?
Feedback-Schleifen nach Online-Einkäufen kennt mittlerweile wohl jeder.
Klar, man darf es nicht übertreiben. Außerdem arbeiten alle Unternehmen an diesem Thema. Da muss man im Rennen halt vorne bleiben.
Wie hoch muss die Kundenzufriedenheit sein?
Mit 4,5 von 5 Sternen beginnt man, die Kunden anzuziehen. Richtig erfolgreich ist man, wenn man ganz oben steht. Die Leute, die die Bestnote geben, sagen: Das war so super, das muss ich mal gleich meinem Freund erzählen.
Wie bewerten Sie hier die Allianz?
Richtig zufrieden bin ich nur, wenn alle unsere Kundenkontakte begeistern. Da sind wir auf einem guten Weg – es gibt aber immer Luft nach oben. In der klassischen Notenskala ordne ich uns beim Thema Kundenzufriedenheit zwischen einer 1- und einer 2+ ein.
Welches ist die dritte Voraussetzung für den Erfolg?
Dies ist die digitale Oberfläche. Dort sind wir sehr gut. Wir haben früh investiert und verfügen über viele Instrumente. Wer hat schon Webseiten für jeden Vertreter, die individuell gestaltet werden können, die aber eingegliedert sind in die Webseite des Konzerns, so dass deren Angebote komplett auf den Vertreterseiten eingebettet sind? Wir unterstützen außerdem die Vertreter intensiv bei ihren Social-Media-Auftritten. Beispielsweise haben wir nun über 4.000 Vertreter mit einer eigenen Facebook-Seite und über 2.000 mit einem Instagram-Auftritt. Ebenfalls wichtig: Wir haben 2018 unser Kundenportal „Meine Allianz“ total neu aufgestellt. Die Anmeldezahlen von Portal und der Meine Allianz-App sind seitdem deutlich gestiegen. Mehr als die Hälfte der registrierten Teilnehmer nutzt regelmäßig die App, die mit etwa 4,5 Sternen sehr gut bewertet ist.
Welche der drei Voraussetzungen spielt die wichtigste Rolle?
Mh, eine schwierige Frage. Ich würde sagen, die Wirkung ist eher multiplikativ. Ein Beispiel: Ohne zufriedene Kunden haben Sie mit der besten digitalen Oberfläche und einer sehr bekannten Marke trotzdem keinen Erfolg. Man muss in allen Disziplinen wachsam sein, dies gilt auch für die Allianz.
Sie loben die Performance Ihres Hauses, versehen dies aber zugleich immer wieder mit Einschränkungen.
Diese Zwischentöne haben einen tieferen Grund. Wenn wir irgendetwas falsch machen, löst sich unser bisheriger Erfolg schnell in Luft auf. Sehr schnell. Dies war in der früheren analogen Welt nicht so extrem der Fall.
Dies gilt wohl für jedes Unternehmen.
Ja, aber in besonderem Maß für die Assekuranz. Wenn ich Ihnen eine Versicherung verkaufe, verkaufe ich Ihnen ja nicht nur ein Leistungsversprechen in zehn Jahren, sondern ich transportiere im besten Fall ein Gefühl: Wow, jetzt bin ich abgesichert. Dieses Gefühl ist dann besonders stark, wenn nicht irgendetwas Unangenehmes passiert. Selbst wenn nur Kleinigkeiten schiefgehen, Sie beispielsweise am Telefon niemanden erreichen, sind Sie verunsichert.
Falls die drei Voraussetzungen, die Sie genannt haben, vorhanden sind: Was folgt danach?
Der Versicherer sollte Sichtbarkeit gewinnen. Dafür setzen wir viel stärker als früher aktive Kundenansprache ein. Nicht irgendwie und irgendwo, sondern in der jeweiligen Zielgruppe mit genau dem Angebot, das in der Situation relevant ist. Der Dreiklang lautet: Welche Person braucht welches Angebot in welchem Zeitfenster? Dies hört sich trivial an, ist aber sehr schwierig.
Nennen Sie bitte ein Beispiel.
Wir haben zum Beispiel ein echt tolles Angebot in der Zahnzusatzversicherung. Wir können damit punkten. Gegen die Konkurrenz musst Du aber trotzdem sichtbar sein. Jetzt ist die Frage: Wenn ich eher jüngere Leute gewinnen will, wo finde ich diese Gruppe? Welche Zeitschriften lesen sie, auf welchen Kanälen sind sie unterwegs, für welche Sportarten interessieren sie sich? Für die Beantwortung haben wir bei der Allianz wirklich viele Daten.
Zielgruppenspezifische Ansprache ist ein uraltes Marketing-Werkzeug.
Wir setzen es aber viel präziser ein. Ein Beispiel: Vor drei Jahren haben wir mit dem Sponsoring von Beachvolleyball begonnen. Nach zwölf Monaten kam jemand aus dem Management zu mir und hat gesagt: Ich sehe das nie, das ist doch völlig unsichtbar. Stimmt für Dich, habe ich gesagt, Du bist aber auch nicht die Zielgruppe. Meine Kids dagegen haben mich angerufen und gelobt: Papa, das ist ja echt cool, was ihr da macht.
Wie erzeugen Sie die Relevanz in der Online-Welt?
Interessenten für unsere Produkte identifizieren wir über Sponsoring-Kontakte, Internetpräsenz in bestimmten Foren, die klassische Suchmaschinen-Werbung oder auch die Optimierung der Suchmaschinen-Suche. Die Aufgabe lautet, die Allianz ins Spiel zu bringen.
Welcher Ansatz bewährt sich online?
Zum Beispiel funktioniert die Kundengewinnung über die Landkarten-Funktion der Handys sehr gut. Wenn Sie dort nach „Versicherung“ suchen, tauchen wir auf. Die Kunst ist, dass der potenzielle Kunde dann direkt anrufen kann.
Das tut er?
Ja, wenn die Bewertung sehr gut ist. Dann sind wir auch in den Suchmasken der Browser gut platziert, und die Interessenten kommen tatsächlich indirekt über die Landkarten zur Allianz. Es ist erstaunlich, wie viele Anrufe direkt aus diesem Karteninstrument in den Agenturen landen.
Reicht eine gute Bewertung?
Neben den Sternen schauen die Menschen auf die Anzahl der Bewertungen. Unser Spitzenreiter unter den Agenturen hat 5 Sterne bei 487 Feedbacks.
Wie viele Kontakte entstehen so?
Auf der Landkarten-Anzeige gibt es neben der Möglichkeit, direkt anzurufen, auch noch die Funktion, sich die Route anzeigen zu lassen oder zur Webseite zu wechseln. Über diese drei Wege entstehen in Deutschland mehr als eine Million Kontakte pro Jahr. Voraussetzung für einen Abschluss ist dann, dass der darauffolgende Prozess vom Anfang bis zum Ende funktioniert. Wenn beispielsweise die Öffnungszeit der Agentur nicht stimmt, ist es vorbei.
Das ist verständlich.
Dies gilt grundsätzlich: Wenn ich diese Betreuungsketten nicht hinkriege, dann gehen die Kunden auf der Reise verloren. Zur Werbung, die wir im Fernsehen mit Günther Jauch senden, muss auch die Webseite passen. Und diese Spots muss auch der Vertreter in der Agentur kennen und wissen, wie er am besten auf zielgerichtete Anfragen reagiert.
Welches sind weitere Erfolgsfaktoren?
Wer seine Kontaktdaten auf der Allianz-Homepage hinterlässt, weil er beispielsweise etwas über eine Musikinstrumentenversicherung wissen will, der darf nicht erst nach Tagen etwas von uns hören. Eigentlich muss der Anruf in den nächsten Minuten kommen, und zwar von jenem Vertreter, der sich mit diesem Spezialthema auskennt. Das kriegen wir hin.
Wie?
Umgehend geht die Info an den Kunden, dass wir seine Anfrage bearbeiten. Parallel schicken wir diese als Nachricht auf das Mobiltelefon des Vertreters, der den Kunden mit einem Klick direkt anrufen kann. Egal, auf welchem Weg der Kunde zu uns kommt: Wir müssen dieses persönliche Matching hinkriegen. Dann gelingt auch Wachstum.
Welche Art von Wachstum ist relevant?
Die Allianz will nun verstärkt auch auf die Zahl der Kunden gucken. Der Umsatz ist, nicht zuletzt am Kapitalmarkt, natürlich ebenfalls eine relevante Größe. Aber es ist auch die Frage, ob die Substanz da ist. Das Wachstum der Kundenzahl ist hierfür ein Gradmesser.
In der Vergangenheit hat die Allianz beispielweise in der deutschen Sachversicherung viele Kunden verloren.
Für das laufende Jahr verzeichnet die Sachversicherung schon ein Kundenwachstum von über 100.000 Kunden.
Aber ist die Allianz vielleicht einfach zu teuer, um stärker zu wachsen?
Der Preis ist für die Relevanz nur ein Element. Natürlich braucht man wettbewerbsfähige Produkte. Aber man muss nicht immer der Billigste sein, vielmehr muss das Preis-Leistungsverhältnis stimmen.
Was bieten Sie den Kunden im Bestand, um zu Wachstum zu kommen?
Wenn man eine Individualansprache nicht übertreibt, führt dies zu mehr Geschäft. Man muss es halt so machen, dass der Kunde nachher sagt, das war hilfreich.
Was goutieren Ihre Kunden?
Versicherungschecks beispielsweise haben sich bewährt. Platte Werbemechaniken von der Art, hier ist die Allianz, bitte kaufen, halte ich im Versicherungsbereich für unsinnig.
Wo sprechen Sie Bestandskunden an?
Wir versuchen dies in unseren Servicecentern zu verankern. Wenn ein Kunde anruft, können wir ihm gleich eine weitergehende Beratung anbieten.
Kann dies nicht lästig sein?
Nehmen wir an, Sie rufen die Allianz mit der Nachricht an: Ich ziehe um, bitte
vermerken Sie die neue Adresse in Ihrem System. Dann kann ich sagen: Prima, nehme ich auf, schönen Tag noch. Oder ich kann sagen: Bei der Gelegenheit,
was ist dann mit Ihrer Hausratsversicherung? Wollen Sie die Höhe der Versicherungssumme anpassen? Diese Art von Aufmerksamkeit schätzen die Kunden enorm, die Zufriedenheit geht sofort hoch.
Wo kann die Allianz bei der Kundengewinnung besser werden?
Natürlich gibt es in der Welt viel mehr latente Nachfrage, als wir bedienen. Auf jeden Fall können wir mehr Leads für unseren Vertrieb gebrauchen.
Was kostet der zusätzliche Einsatz der vielfältigen Instrumente?
Wir versuchen das so hinzustellen, dass wir dadurch nicht unsere Vertriebskosten steigern. Es muss ökonomisch sinnvoll sein. Das geht nur, wenn sich auch der Vertreter beteiligt, der dafür ja Neukunden gewinnt. Beispielweise zahlen unsere Vertreter für einen Lead. Wir versuchen dies günstiger anzubieten als am Markt, wo Versicherer ja ebenfalls Leads kaufen können. So dass am Schluss alle gewinnen, Kunde, Vertreter und die
Allianz.
Wie sehen Sie die Zukunft?
Sie meinen positiv oder negativ? Ich bin Optimist: Wir helfen den Menschen, sich sicher zu fühlen, das ist extrem relevant, und in der digitalen Welt werden wir mit unseren Vermittlern deshalb erst recht punkten.
Im Interview: Bernd Heinemann
„Der Wunsch nach persönlichem Kontakt bleibt stabil“
Der Chefstratege über die Wachstumsstrategie der Allianz in der Online-Welt – Marke, Kundenbindung und digitale Oberfläche als Voraussetzung für Erfolg
Bernd Heinemann ist als „Marketing und Distribution Officer“ der Allianz SE tief im Vertrieb verwurzelt. Der jung wirkende und zugewandte Physiker agiert darüber hinaus als Chefstratege des Versicherers. Sein Denken geht weit über das Alltagsgeschäft hinaus, wie das Gespräch mit ihm zeigt.
Das Interview führte Michael Flämig.