GastbeitragOliver Everling, Rating Evidence

Dilemma der ESG-Ratings

Die BaFin hält es mit der Branche und geißelt das Angebot der auf Nachhaltigkeit spezialisierten Ratingagenturen als zu teuer. Tatsächlich müsste aber noch mehr investiert werden, um die Qualität zu verbessern, schreibt Rating-Spezialist Oliver Everling.

Dilemma der ESG-Ratings

Mit dem wachsenden Bewusstsein für nachhaltige Investitionen steigt auch die Nachfrage nach verlässlichen, transparenten und vergleichbaren ESG-Daten und -Ratings. Die Marktaufsichtsbehörde BaFin hat Mitte Februar eine Marktstudie über die Erhebung und den Umgang mit ESG-Daten und -Ratingverfahren durch Kapitalverwaltungsgesellschaften (KVGs) veröffentlicht, die eine Branche im Umbruch beleuchtet.

Begrenzte Aussagekraft

Bedauerlicherweise ist die Aussagekraft der Marktstudie begrenzt. Sie fokussiert ausschließlich auf KVGs. Das wirft Fragen hinsichtlich der Repräsentativität der Ergebnisse auf. Die Perspektiven anderer Marktteilnehmer, die ESG-Daten und -Ratings nutzen, bleibt unberücksichtigt.

Überbetont negativ

Interessanterweise zeigt sich zudem in der Zusammenfassung der BaFin-Studie eine deutliche Überbetonung negativer Ergebnisse. Diese spiegeln die detaillierten Studienergebnisse nur bedingt wider. Ein Beispiel hierfür findet sich in der Frage zur Qualität von ESG-Daten. Obwohl niemand die Qualität mit der schlechtesten Note (6) bewertete und die Mehrheit die Qualität auf der positiven Seite der Skala (1 bis 3) einschätzte, fasst der Bericht zusammen, dass nur etwa 38% der befragten KVGs die Qualität der extern erhobenen ESG-Daten als „hoch“ bewerten. Dies legt nahe, dass die BaFin möglicherweise bewusst eine negative Darstellung der ESG-Bewertungen gewählt hat, was die tatsächliche Meinung der KVGs nicht genau widerspiegelt. Tatsächlich summiert sich die Bewertung mit besseren Noten von 1 bis 3 auf 76%, während schlechtere von 4 bis 6 nur 24% ausmachen.

Fehlende Vergleichbarkeit

Die Studie offenbart aber auch eine Reihe von Herausforderungen, die diesen Markt kennzeichnen. Etwa die Kosten für ESG-Daten, die Qualität und Vergleichbarkeit dieser Informationen sowie die Frage nach einer Standardisierung der Bewertungsmethoden.

81% der befragten KVGs hielten die Kosten für ESG-Daten für nicht angemessen. Die BaFin titelte „Daten und Ratings zu ESG sind teuer und verbesserungswürdig“. Eine kontraintuitive Perspektive, die aus der Studie abgeleitet werden kann, ist die Frage, ob die Preise für ESG-Daten und -Ratings nicht zu hoch, sondern zu niedrig sind, um eine höhere Qualität zu gewährleisten.

Entgeltbasierte Finanzierung

Das Vergütungsmodell von ESG-Rating-
agenturen beruht hauptsächlich auf Entgelten, die für den Zugang zu ihren Bewertungen und Analysen erhoben werden. Kunden zahlen eine jährliche oder monatliche Abonnementgebühr für den Zugang zu einer Datenbank mit ESG-Ratings und -Analysen. Für maßgeschneiderte Analysen zu bestimmten Unternehmen und Sektoren oder spezifische Anfragen erheben Ratingagenturen individuelle Vergütungen. Unternehmen, die ihre ESG-Leistung durch eine unabhängige Bewertung bestätigen lassen möchten, können für solche Zertifizierungen oder spezielle Ratings bezahlen. Weniger verbreitet sind Modelle, bei denen die Gebühren teilweise von der Performance der bewerteten ESG-Strategien abhängen. Jedes Preismodell birgt potenzielle Interessenkonflikte, da jede Ertragsquelle die Unabhängigkeit der Bewertungen beeinflussen könnte. Laut BaFin sehen sich KVGs mit einer „babylonischen Sprachverwirrung“ konfrontiert, wenn es um die Symbole und Bewertungsskalen verschiedener ESG-Ratingagenturen geht. Tatsächlich variieren die Auswahl und Gewichtung der Kriterien, die in die ESG-Ratings einfließen, zwischen den Anbietern erheblich.

Wettbewerb um Vertrauen

Das unterstreicht die Notwendigkeit einer evidenzbasierten Betrachtung. Auch bei der Qualitätssicherung und Methodentransparenz lassen sich große Unterschiede feststellen zwischen den Anbietern, so dass sie bei Anlegern um Vertrauen in ihre Bewertungen konkurrieren.

Eine vollständige Standardisierung der Inhalte von ESG-Ratings wäre weder dem Markt noch dem Thema Nachhaltigkeit dienlich. Vielmehr sollte der Wettbewerb zwischen den Ratingagenturen als entscheidender Treiber für Innovation und Diversität in den Bewertungsmethoden erhalten bleiben.

Es ist der Wettbewerb, der dazu beiträgt, dass Agenturen kontinuierlich ihre Methoden verbessern und anpassen, um den sich ändernden Anforderungen der Investoren und den realen Umwelt- und Sozialbedingungen gerecht zu werden.

Die Diskrepanz zwischen den wahrgenommenen Kosten für ESG-Daten und -Ratings und der geforderten Qualität und Transparenz könnte darauf hindeuten, dass die derzeitige Fantasie bei der Preisgestaltung nicht ausreicht. Hochwertiges Rating erfordert Investitionen in Research, Entwicklung und unabhängige Überprüfungen. Höhere Preise könnten es den Ratingagenturen ermöglichen, in bessere Datenquellen zu investieren, ihre Methoden zu verfeinern und zu standardisieren sowie die Transparenz ihrer Bewertungsprozesse zu erhöhen.

Strategisches Eigeninteresse

Ob die verbreitete Schelte an den Agenturen im strategischen Eigeninteresse klug ist, müssen die KVGs selbst beurteilen. Je stärker KVGs die Kosten für ESG-Daten und -Ratings aufgrund unzureichender Qualität kritisieren, desto eher motivieren sie damit den Regulierer dazu, die Ratingagenturen zur Erfüllung höherer, kostenintensiverer Standards zu verpflichten. Infolgedessen könnten Ratinganbieter im stillen Einvernehmen diese erhöhten Kosten auf die Nutzer umlegen.

Während die Kosten für ESG-Daten oft als zu hoch empfunden werden, wird eine Neubewertung der Preisstrukturen paradoxerweise ein Schlüssel sein, um höhere Qualität, Transparenz und Standardisierung zu erreichen. Eine solche Entwicklung würde nicht nur den KVGs zugutekommen, sondern auch das Vertrauen der Investoren in nachhaltige Investitionen stärken und letztlich zu einem nachhaltigeren Finanzsystem beitragen.

Paradox und Dilemma der Kritik an ESG-Ratings