Europa rüstet auf – machen die Banken da mit?
Nach dem E kommt das S: Zu Beginn des Jahres veröffentlichte ein Expertengremium im Auftrag der Europäischen Union den Abschlussbericht zur geplanten Sozial-Taxonomie – und die Rüstungsindustrie konnte zumindest ein wenig aufatmen. Nachdem im vergangenen Jahr die Rede davon war, Waffenhersteller grundsätzlich als „sozial-schädlich“ einzustufen, milderten die EU-Experten die Formulierung im Bericht wieder ab. Der Ukraine-Krieg brachte nun zusätzliche Dynamik in die Diskussion um die ESG-Thematik (Environmental, Social, Governance). Sollten auch Finanzinstitute ihre Kreditvergabestandards überdenken?
Sozial-Taxonomie auf Agenda
Die Europäische Union will die Weichen für eine nachhaltigere Wirtschaft stellen – sowohl in ökologischer als auch sozialer Hinsicht. Hierfür erarbeitet sie ein Klassifizierungssystem (EU-Taxonomie), in dem festgelegt ist, welche Wirtschaftstätigkeiten als nachhaltig angesehen werden und welche nicht. Nachdem sich die EU-Kommission zunächst mit der Taxonomie für ökologische Nachhaltigkeit (Environmental) befasste, steht nun die soziale Klassifizierung (Social) auf der Agenda. Die zwei entscheidenden Kriterien hierfür: Sind die Produkte oder Dienstleistungen eines Unternehmens aus sozialer Sicht sinnstiftend oder schädlich? Verhält sich das Unternehmen gegenüber seinen Arbeitnehmern und der gesamten Wertschöpfungskette fair?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein Gros der Banken schon seit längerer Zeit – und hat sich bereits Kreditvergabestandards inklusive sogenannter Ausschlusskriterien auferlegt, die insbesondere auch die Vermeidung von Reputationsrisiken im Blick haben.
Denn: Zwar geben die EU-Taxonomien keine bindende Vorgabe für Finanzinstitute zur Erreichung eines bestimmten Anteils nachhaltiger Investitionen, doch die Offenlegung und das Reporting der getätigten Investitionen sind dennoch verpflichtend. So werden Stakeholder wie Öffentlichkeit, Aufsicht und Investoren in Zukunft verstärkt auf den Anteil taxonomiekonformer Investitionen in den Bank-Portfolien schauen und die Aktivitäten der Institute entsprechend hinterfragen.
Allerdings: Ist wirklich alles, was nicht „grün“ ist, automatisch „braun“? In Bezug auf die Rüstungsindustrie sorgt genau diese Frage für Gesprächsstoff. Die russische Invasion in der Ukraine und der damit verbundene zerbrechliche Frieden in Europa haben die Debatte zusätzlich befeuert. Das spiegelt sich vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung von Rüstungsexporten in das Krisengebiet und den Nicht-Nato-Staat Ukraine wider. Während zu Beginn des Jahres – noch vor der russischen Invasion – laut ZDF-Politbarometer drei von vier Befragten sagten, sie würden die Lieferung von Waffen in die Ukraine kategorisch ausschließen, wandelte sich die Meinung der Deutschen mit Beginn des Krieges. In einer weiteren Befragung im März gaben 67% an, sie würden die Rüstungsexporte als „richtig“ erachten. Diese dynamische Situation ist ein schmaler Grat für die Finanzinstitute: Die Reputationsrisiken haben deutlich zugenommen.
Streitpunkt Waffen
Das zeigt sich am Umgang mit Investitionen in die Rüstungsindustrie. Einige Banken haben Kapitalflüsse in diesen Sektor komplett gekappt, andere finanzieren keine Unternehmen, die einen Teil ihres Umsatzes mit kontroversen Waffen machen. Dabei zielen die Ausschlusskriterien jedoch in der Regel auf keinen Kunden pauschal ab. Vielmehr handelt es sich ganz allgemein um Aktivitäten, welche die Geldhäuser nicht finanzieren wollen – auch aus Furcht vor der öffentlichen Wahrnehmung. Diesen Aspekt kritisiert die Rüstungsbranche: Viele Banken würden versuchen, alles auszuschließen, was ihren Stakeholdern nicht gefallen könnte. Doch die Zeiten erforderten eine neue Herangehensweise. Stattdessen sollten Banken einen differenzierten Umgang mit der Rüstungsindustrie pflegen, da beispielsweise Defensivwaffen für die Wahrung der Demokratie und gesellschaftlicher Freiheitsrechte enorm wichtig seien, so argumentieren Vertreter der Waffenhersteller. Darüber hinaus sei aus Sicht der Rüstungsbranche die Diskussion um die soziale Taxonomie mehr von subjektiver Auffassung von Gerechtigkeit getrieben und weniger von wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie es bei der grünen Taxonomie der Fall ist.
Infolgedessen hat der Experten-Rat der Europäischen Kommission die Formulierung im Abschlussbericht zur Sozial-Taxonomie aufgeweicht. Dies geschah vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Die jüngsten Ereignisse lenken die Diskussion in neue Bahnen – und haben vor allem die Rüstungsindustrie bestärkt.
Einen ersten Teilerfolg konnte die Branche bereits verbuchen: Zunächst waren Wirtschaftstätigkeiten von Unternehmen aus der Rüstungs-, Tabak- und Glücksspielindustrie grundsätzlich als „socially harmful“ (deutsch: sozial-schädlich) eingestuft. Für die Industrien bedeutete das, dass es für sie deutlich schwieriger geworden wäre, Fremd- und Eigenkapital zu beschaffen. Das sorgte in der Branche für große Proteste, die auch erfolgreich waren. Nach aktuellem Stand werden nur noch Wirtschaftstätigkeiten als „socially harmful“ eingeordnet, wenn es sich dabei um Waffen oder Kampfstoffe handelt, die nicht den internationalen Konventionen entsprechen. Dieser Umstand öffnet auch die Tür für Finanzinstitute, ihre Kreditvergabestandards zu überdenken. Doch wie sollten sie handeln?
Schwierige Debatte
Die gegenwärtige Situation ist für die Banken mit Sicherheit keine leichte. Die Debatte im gesamten ESG-Kontext ist äußerst dynamisch. Das zeigen auch die Diskussionen um die Aufnahme von Erdgas und Atomenergie in die grüne Taxonomie. Die Entscheidung ist sehr umstritten – Österreich und Luxemburg wollen gegen die Entscheidung der EU-Kommission klagen: Das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen, ein Umdenken der Verantwortlichen der Europäischen Union nicht ausgeschlossen.
Ähnlich verhält es sich nun in der Diskussion um die Sozial-Taxonomie beziehungsweise den Abschlussbericht, der im Hinblick auf die Rüstungsindustrie gelockert wurde. Deshalb sollten Banken sowohl die gesellschaftliche als auch die politische Perspektive einnehmen, um beim Umgang mit den eigenen Kreditvergabestandards Reputationsrisiken weiterhin zu minimieren.
Der Ukraine-Krieg dürfte nun dafür gesorgt haben, dass sich die öffentliche Wahrnehmung von Waffenherstellern verschoben hat. So könnte eine Lockerung der Kreditvergabestandards der Finanzinstitute und eine damit verbundene Refinanzierung der Rüstungsunternehmen – zumindest für Defensivwaffen beziehungsweise auch Exporte an Nicht-Nato-Staaten – sogar einen Reputationsgewinn bedeuten.
In der Politik hat dieser Perspektivwechsel bereits stattgefunden. Nach jahrelanger Abrüstung der Bundeswehr bewirkte die russische Invasion in der Ukraine eine Kehrtwende, an deren Ende die Ankündigung stand, 100 Mrd. Euro in deren Modernisierung zu investieren. Diese Ereignisse werden die Debatte um das Klassifizierungsmodell der Sozial-Taxonomie sicherlich beeinflussen und in neue Bahnen lenken.
Das bedeutet für Banken in der gegenwärtigen Situation vor allem eines: Sie müssen möglichst flexibel sein, um den Rüstungsunternehmen das notwendige Kapital zur Verfügung zu stellen. Dennoch sollten die Finanzinstitute an ihrer Ausrichtung festhalten, Nachhaltigkeitskriterien zum Kern ihres Handelns zu machen. Denn auch die geopolitische Lage ändert nichts an der Tatsache, dass sich die Finanzbranche in eine nachhaltigere Zukunft aufmachen muss.