Kein Mangel an Risikokapital absehbar
Von Björn Godenrath, Frankfurt
Es waren tolle Zeiten im Tech-Boom für die Venture-Capital-Industrie. Stetig steigende Bewertungen, die Börse als Exitkanal und dank Überliquidität im Kapitalmarkt Rekordzuflüsse in immer neue Fondsvehikel. Auch die Gründer befanden sich im Schlaraffenland, konnten sie doch Risikokapital zu strammen Bewertungen einsammeln. Seitdem die Notenbanken auf Straffungskurs sind, sortieren sich Gründer und VCs neu, müssen sie ihre Geschäftsmodelle doch flink auf Profitabilität trimmen bzw. den Bestand an Investments durchfinanzieren, bevor sie neue Ziele anpeilen.
Deal-Pause bald vorbei
Die Folge: Allein in Fintech ist das Fundingvolumen zuletzt um mehr als ein Drittel eingebrochen, da sich opportunistische Adressen temporär verabschiedet haben und die VCs ihr Pulver trocken halten. Doch allein der wachsende Bestand an „Firepower“ sollte Gründern Zuversicht geben, dass die Trockenzeit nicht ewig dauert. Denn wenn Fonds erstmals befüllt sind, dann muss mit einem gewissen Anlagehorizont auch investiert werden. Und wie sich nun dank einer Analyse von Decibel Partners zeigt, haben die VC-Fonds dermaßen viel trockenes Pulver angesammelt, dass ab 2023 ein Feuerwerk gezündet werden müsste. Den Daten der von Jon Sakoda über Linkedin veröffentlichten Studie „Opening the Floodgates: The 290 Billion Dollar Venture Capital Reserve“ zufolge hat die Deal-Pause vom Sommer die Liquiditätsreserven auf die dort genannte Rekordhöhe per Ende Juni anschwellen lassen. Das ist ungefähr doppelt so viel wie in Prä-Covid-Zeiten, wobei die VC-Industrie Daten von Pitchbook zufolge seit 2016 kumuliert 573 Mrd. Dollar aufgenommen hat – und davon alleine 261 Mrd. Dollar in den letzten sechs Quartalen, wie Sakoda genüsslich ausführt, um die Dimension des VC-Booms zu verdeutlichen. Gleichzeitig spricht er das Kernproblem von Gründern in dieser schwierigen Phase an: Soll man die „burn rate“ eindampfen und sich aufs Schlimmste vorbereiten oder sogar das Tempo erhöhen und alles auf ein Funding im kommenden Jahr setzen?
Die Daten zum durchschnittlichen Investmenttempo könnten aufschlussreich sein: 8 bis 9% des trockenen Pulvers werden pro Quartal investiert, und da sich alle VCs im Rennen um ein Top-Ranking befinden, kann es sich niemand leisten, allzu lange an der Seitenlinie auszuharren. Die Kapitalallokation dürfte jedoch verändert stattfinden: Da die Aktienmärkte nicht aufnahmefähig sind, dürfte in Later Stage nur zu stabilen Bewertungen gezeichnet werden, und das vor allem von Altinvestoren. Außerdem dürfte die Bewertungsmetrik sich von „growth at all cost“ auf „groth plus effieciency“ verändern – ein Prozess, der schon eingesetzt hat. Fintechs verringern ihren Fundingbedarf, indem eben doch das eine oder andere Projekt zurückgestellt wird, und auch beim Personal kommt es in dem Zuge zu Einschnitten. Megarunden in Early Stage dürften selten werden, so Sakodas Erwartung.
Erhöhte Risikoaversion
Ob seine Erwartung eintritt, dass mit weniger Later-Stage-Allokation mehr für Early Stage bereitsteht, sei einmal dahingestellt. Denn bei allgemein erhöhter Risikoaversion meiden ehemals mutige Investoren frühe Phasen aufgrund der Unberechenbarkeit von Geschäftsmodellen. Und in Later Stage konkurrieren VC-Fonds zunehmend mit Private Equity, die sich auch in Fintech schon einige Rosinen rausgepickt haben – und das sind die attraktiven Kandidaten für IPOs oder Trade Sales.
Die Moral von der Geschicht’: Auch wenn das Fundingklima kurzfristig frostig bleiben dürfte, so dürfte 2023 Tauwetter einsetzen, da einfach zu viel vorhandenes Kapital nach Anlagemöglichkeiten sucht. Und da sich die Transformation der Banken- und Finanzindustrie fortsetzt, dürfte dieser ins lizenzierte Geschäft drängende Sektor schon bald wieder das gesteigerte Interesse der Kapitalgeber auf sich ziehen.