Value-Aktien sind günstig wie selten
Armin SabeurCFA, Vorstand und Portfoliomanager bei OPTINOVAValue-Investing galt lange Zeit als Erfolgsformel für die Aktienanlage. Die Prinzipien dahinter klingen für viele Anleger unmittelbar einleuchtend: Kaufe Aktien, deren Preis unterhalb des fairen Werts für das jeweilige Unternehmen liegt, und warte dann, bis der Kurs diesen fairen Wert erreicht. In aller Regel zeichnen sich solche Aktien durch ein niedriges Kurs-Gewinn- und Kurs-Buchwert-Verhältnis (KGV beziehungsweise KBV), durch eine hohe Dividendenrendite und Eigenkapitalquote aus. Zudem verfügen die entsprechenden Unternehmen regelmäßig über solide Geschäftsmodelle mit entsprechend stabiler Gewinnsituation und langfristiger Wachstumsperspektive.Langfristig zahlt sich die Suche nach derartigen Aktien nachweislich aus. Die Strategie, von Benjamin Graham etabliert und von Starinvestoren wie Warren Buffett und Charlie Munger sowie zahllosen Anhängern weltweit praktiziert, erzielt in der langfristigen historischen Betrachtung eine klare Outperformance gegenüber sogenannten Wachstumstiteln. Das zeigt ein Vergleich des US-Value-Index Russell 1 000 Value mit seinem Pendant Russel 1 000 Growth Index: Über einen 40-Jahres-Zeitraum bis Ende vergangenen Jahres kommt der Value-Index auf ein Plus von 8 134 %, die Growth-Variante landet bei 6 560 %. Auch seit der Jahrtausendwende liegt der Russell 1000 Value Index klar vorn.Betrachtet man indessen die jüngere Vergangenheit, zeigt sich ein ganz anderes Bild: Seit der Finanzkrise liefern Investments in Wachstumswerte deutlich bessere Erträge als solche in Value-Titel. So lag der Growth-Index in sieben von zehn Jahren vorn und hat inklusive Dividenden eine Performance von 418 % erreicht. Die Überperformance zum Russel 1000 Value Index inklusive Dividenden beträgt in diesem Zeitraum 180 % (Stand 15.10.2019, siehe Grafik).Hat das zu bedeuten, dass die schlüssige und einst so erfolgreiche Value-Strategie ausgedient hat? Ganz so einfach ist es naturgemäß nicht. Zunächst zeigt sich: je kürzer der Betrachtungszeitraum, desto ausgeglichener die Verteilung der Ergebnisse. So hatte zwischen Anfang 1979 und Ende 2018 der Growth-Index über monatlich rollierende Ein-Jahres-Zeiträume in 52 % der Fälle die Nase vorn; bei Fünfjahresperioden liegen Value und Growth mit 50 zu 50 gleichauf. Über zehn Jahre dagegen steht der Value-Index mit einer Outperformance in 62 % der Fälle deutlich besser da. Klar ist damit, dass auch Value-Titel immer wieder Schwächephasen haben. Die aktuelle Entwicklung ist allerdings äußerst ausgeprägt. Die wichtigste Ursache liegt dabei aber weniger im Bereich der Value-Strategien selbst als vielmehr in den hervorragenden Bedingungen der letzten zehn Jahre für Growth-Investments. So waren Wachstums-Aktien, bedingt durch das Platzen der Technologie-Blase Anfang des Jahrtausends, jahrelang unterbewertet und wurden von vielen Marktteilnehmern als zu riskant eingestuft. Acht Jahre später hat dann die Finanzkrise zu einer völligen Neubewertung von Risiken durch die Investoren geführt. Vermeintlich sichere Value-Titel, vom Platzen der Tech-Blase noch weitgehend verschont, offenbarten bis dahin wenig beachtete Probleme. Im Vergleich zum breiten Markt boten sie häufig nicht mehr den Wert, den das Label “Value” verspricht. Insbesondere die Finanztitel, welche fast ihr gesamtes Eigenkapital verloren haben und teilweise durch staatliche Rettungsmaßnahmen am Leben erhalten wurden, wurden zur Belastung für Value-Investoren.Gleichzeitig schlug die fast eine Dekade währende Enttäuschung über überzogene und unerfüllte Erwartungen, die vor allem die Internetbranche geschürt hatte, in neuen Optimismus um. Technologischer Wandel und Digitalisierung wurden greifbar – zuallererst in Form des damals revolutionären ersten iPhones, das kurz vor Ausbruch der Finanzkrise Anfang 2007 auf den Markt kam und großen Teilen der Tech-Branche ganz neue Perspektiven eröffnet hat.Entsprechend positiv haben sich seither nicht nur die sogenannten FAANG-Aktien entwickelt – das Akronym steht für Facebook, Amazon, Apple, Netflix und Google -, sondern auch Titel weiterer etablierter Tech-Konzerne wie Microsoft und zahlreicher junger, aufstrebender Technologie-Unternehmen. Etliche dieser Firmen haben die Erwartungen Quartal um Quartal übererfüllt und somit die Anleger begeistert. Selbst Value-Veteran Buffett kann sich dieser Begeisterung offensichtlich nicht vollends entziehen: Im Mai berichtete er vom Einstieg seiner Beteiligungsgesellschaft Berkshire Hathaway bei Amazon. Mit einem KGV von um die 70 ist die Aktie des Online-Versandhauses dabei alles andere als ein Value-Titel. Auch andere valueorientierte Investoren greifen zunehmend zu höherpreisigen Tech-Werten, um die anhaltende Value-Flaute zumindest teilweise auszugleichen. Das sieht stark nach einem Paradigmenwechsel aus. Alle bisherigen Comeback-Anläufe des Value-Segments sind denn auch im Sande verlaufen, zuletzt im September dieses Jahres.Doch wie berechtigt sind die satten Kursanstiege vieler Tech-Aktien und ihre Outperformance gegenüber Value-Titeln wirklich? Das durchschnittliche erwartete Gewinnwachstum pro Aktie der Wachstumstitel auf Fünfjahressicht (Earnings per Share, EPS) liegt bei etwa 17,8 % pro Jahr und damit deutlich höher als bei Value-Aktien. Hier beträgt die Kennzahl gerade 7,1 %. Beim KGV hingegen verhält es sich erwartungsgemäß genau umgekehrt. Das durchschnittliche KGV der Wachstumstitel liegt bei 25,9 gegenüber 16,3 für Value-Aktien.Nun sind die Erwartungen an die Gewinnentwicklung bei Wachstumsunternehmen berechtigterweise höher als bei klassischen Value-Kandidaten. Dennoch sollten sich Anleger regelmäßig fragen, ob die hohen Erwartungen gerechtfertigt sind und in einem vernünftigen Verhältnis zum aktuellen Aktienkurs stehen. Denn früher oder später zählen tatsächlich erwirtschaftete Gewinne. Unklar ist bis heute vielfach, ob es den Technologie-Unternehmen gelingen kann, schnell genug und lange genug zu wachsen, um die hohen Erwartungen zu erfüllen, die sich in ihren Kursen widerspiegeln. Klar ist dagegen: Jeder weitere Kursanstieg der Wachstumstitel erhöht das Enttäuschungspotenzial. Sollten die hohen Erwartungen der Investoren von den Tech-Unternehmen einmal nicht mehr erfüllt werden, hätte dies aller Voraussicht nach herbe Rückschläge an den Aktienmärkten zur Folge. Noch verschärfend wirkte sich dabei eine Abkehr vom historisch niedrigen Zinsniveau aus. Diese erscheint allerdings bis auf Weiteres undenkbar, sodass Value-Investoren nicht auf Unterstützung von dieser Seite hoffen sollten. Auch ohne Zinswende beurteilen aber immer mehr Investoren die Lage für Wachstumsaktien kritisch.Als entsprechend günstig erweisen sich die Aussichten für Value-Titel. Nach der historisch beispiellos langen Underperformance sind die Abschläge der Bewertungen von Substanzaktien groß wie selten in der Geschichte und befinden sich auf ähnlichem Niveau wie zu Beginn der Dotcom-Krise. Gemessen an der rollierenden Zehnjahresperformance dauerte es damals gerade zehn Monate, bis Value-Aktien den Renditeabstand zu Wachstumstiteln aufgeholt hatten.Zwar muss sich Geschichte nicht wiederholen. Seit der ersten Dotcom-Ära hat sich die Welt maßgeblich verändert. Digitalisierung und Technologie spielen eine fundamental andere Rolle als noch zur Jahrtausendwende. Dennoch ähneln sich die Muster an den Märkten, sodass das Umkehrpotenzial enorm erscheint.Denn schließlich haben die Argumente für Value-Strategien ihre Gültigkeit nicht verloren. Weiterhin und völlig unabhängig von der Kursentwicklung anderer Aktien gilt, dass solide und umsatzstarke Unternehmen mit erprobten Geschäftsstrategien und einer gesicherten Marktstellung ein gutes Investment darstellen, wenn sie zu einem attraktiven Preis zu haben sind. Und genau das ist nach einer Dekade der Value-Verschmähung vielfach der Fall.Möglicherweise wird die Geduld, die Value-Investoren ohnehin mitbringen müssen, noch ein wenig weiter strapaziert. Sicher ist aber, dass sie sich früher oder später bezahlt machen wird.