EuGH-Urteil

Widerruf wirtschaftlich letztlich nicht zu empfehlen

Im Gastbeitrag erläutert unsere Autorin den Umfang und Auswirkungen des viel beachteten EuGH-Urteils vom September auf das Verbraucherkreditgeschäft. Miriam Bouzza ist Partnerin und Leiterin der Solution Line Legal Financial Services bei KPMG Law.

Widerruf wirtschaftlich letztlich nicht zu empfehlen

Am 9. September 2021 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zu Verbraucherkrediten eine für das Verbraucherkreditgeschäft grundlegende neue Entscheidung gefällt. Mit dieser viel beachteten Entscheidung hat der EuGH die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) lediglich in Teilen bestätigt, im Hinblick auf bestimmte Aspekte jedoch eine abweichende Auffassung vertreten.

Abzuwarten bleibt, wie der BGH auf die Entscheidung aus Luxemburg reagieren wird. Das Landgericht Ravensburg ist an die von ihm erbetene Entscheidung aus Luxemburg tatsächlich gebunden. Im Übrigen dürfte dieses Urteil in der Auslegung auch für andere nationale Gerichte eine Ausstrahlwirkung entfalten, dennoch bleibt hier ein gewisser Spielraum.

Insbesondere obliegt es den nationalen Gerichten, zu beurteilen, ob die vom EuGH aufgestellten generellen Anforderungen erfüllt sind. Wie dieser Spielraum genutzt werden kann, hat der BGH in Reaktion auf das Urteil des EuGH zum Kaskadenverweis vom 26.März 2020 eindrucksvoll gezeigt. Drei Bankarbeitstage nach besagtem EuGH-Urteil kam die klarstellende Antwort aus Karlsruhe: Das Urteil ist für die deutsche Rechtspraxis unerheblich!

Im Juni 2010 hat der deutsche Gesetzgeber die EU-Verbraucherkreditrichtlinie (2008/48/EG) in deutsches Recht umgesetzt. Dabei gab der europäische dem nationalen Gesetzgeber Vorgaben im Hinblick auf sogenannte Pflichtangaben, also Angaben, die Gegenstand eines Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrags sein müssen. Fehlt eine dieser Pflichtangaben, kann der Verbraucher den Darlehensvertrag gegebenenfalls Jahre nach Vertragsschluss noch widerrufen. Da die EU-Verbraucherkreditrichtlinie auf Immobiliar-Verbraucherdarlehen keine Anwendung findet, sind grundsätzlich „nur“ Allgemein-Verbraucherdarlehen vom EuGH-Urteil betroffen, also Darlehen, die von Verbrauchern aufgenommen und nicht mit einem Grundpfandrecht (etwa einer Grundschuld) besichert wurden.

Im Kern werden die folgenden Aspekte vom EuGH – im Unterschied zum BGH – kritisch gesehen:

Verbundener Kreditvertrag – Die Information, ob es sich bei einem Kreditvertrag um einen sogenannten „verbundenen Kreditvertrag“ handelt, sei im Kreditvertrag anzugeben.

Verzugszinsen – Die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltenden Verzugszinsen sind laut EuGH in Form eines konkreten Prozentsatzes anzugeben. Soll der Verzugszinssatz sich während der Vertragslaufzeit automatisch anpassen, so sei ein Verweis auf einen Basiszinssatz nur dann ausreichend, wenn die Berechnung des Verzugszinssatzes durch einen Verweis auf den rezipierten Basiszinssatz (etwa im Bundesanzeiger) und die Häufigkeit von dessen Anpassung sowie die Angabe der Marge (zum Beispiel 5% über dem Basiszinssatz gemäß § 288 Abs. 1 S. 2 BGB) im Vertrag beschrieben wird.

Vorfälligkeitsentschädigung – Sieht der Kreditvertrag für den Fall der vorzeitigen Kündigung des Vertrags die Zahlung einer Vorfälligkeitsentschädigung vor, so muss laut EuGH die Berechnungsmethode im Vertrag so leicht verständlich beschrieben werden, dass der Verbraucher die Höhe selbst bestimmen kann. Damit stellt der EuGH Banken und Sparkassen vor eine Herkulesaufgabe, denn die Berechnung einer Vorfälligkeitsentschädigung ist komplex. Offen ist auch, was der EuGH meint, wenn er fordert, dass die Höhe der Entschädigung bestimmbar sein soll, denn eine mathematische Formel muss explizit nicht angegeben werden. Der bloße Verweis auf die Berechnungsmethode eines nationalen Gerichts genügt nach Ansicht des EuGH jedenfalls nicht.

Außergerichtliches Beschwerde- und Rechtsbehelfsverfahr­en – Ferner sollen nach der Auslegung des EuGH alle dem Verbraucher zur Verfügung stehenden außergerichtlichen Beschwerde- und Rechtsbehelfsverfahren im Kreditvertrag genannt werden. Dabei seien auch die formellen Voraussetzungen ihrer Geltendmachung im Vertrag anzugeben, insbesondere in welcher Form und an welche (physische oder elektronische) Adresse die Beschwerde oder der Rechtsbehelf einzureichen ist sowie gegebenenfalls die für den Verbraucher mit diesem Verfahren verbundenen Kosten. Ein bloßer Verweis auf ein anderes, zum Beispiel im Internet abrufbares Dokument, in welchem diese Modalitäten enthalten sind, soll laut EuGH nicht genügen.

Verwirkung – Ist eine nach der EU-Verbraucherkreditrichtlinie wesentliche Information nicht im Kreditvertrag enthalten, könne sich der Kreditgeber nicht auf Verwirkung des vom Verbraucher nach Jahren erst geltend gemachten Rechts berufen. Die EU-Verbraucherkreditrichtlinie sehe gerade keine zeitliche Beschränkung der Ausübung des Widerrufs für den Fall vor, dass dem Verbraucher die nötigen Informationen zur Ausübung eines Rechts nicht vorlagen. Dies dürfe auch nicht durch nationale Vorschriften oder Rechtsinstitute wie die Verwirkung unterlaufen werden, so der EuGH. Bemerkenswert ist, dass sich der EuGH nur zum zeitlichen Moment geäußert hat. Eine Verwirkung nach deutschem Standard fordert aber neben dem Zeit- auch einen Umstandsmoment.

Dennoch sollten sich Verbraucher nicht blind auf die Versprechungen einlassen, die gerade dieser Tage wieder verstärkt im Internet kursieren. Das Verbraucherkreditgeschäft hat sich in den vergangenen Jahren insbesondere infolge des Dieselskandals für einschlägig spezialisierte Rechtsanwaltskanzleien zu einem hochlukrativen Geschäft entwickelt.

Aus den folgenden Gründen ist dringend Vorsicht geboten:

1. Prozesskostenrisiko – In Fachkreisen wird davon ausgegangen, dass Banken und Sparkassen trotz des EuGH-Urteils ein­gehende Widerrufserklärungen ihrer Kunden – sofern vertretbar – als verfristet und damit unwirksam ablehnen werden. Der Verbraucher muss also damit rechnen, dass er die Wirksamkeit seines Widerrufs bis zur letzten In­stanz wird verteidigen müssen. Es bleibt daher das Prozesskostenrisiko, das für den Verbraucher durch alle Instanzen sehr hoch ausfallen kann. Selbst eine Rechtsschutzversicherung hilft oftmals nicht, wenn diese solche Streitigkeiten vom Versicherungsschutz ausgeschlossen hat.

2. Fälligkeit der Restschuld – Selbst wenn der Widerruf vom Finanzierungsinstitut akzeptiert wird, hat der Darlehensnehmer – jedenfalls beim Widerruf von nicht verbundenen Verträgen – innerhalb von 30 Tagen das empfangene Darlehen und die gesetzlich geschuldeten Sollzinsen in einer Summe zurückzuzahlen. Kann der Verbraucher innerhalb dieses kurzen Zeitfensters nicht zahlen, etwa weil ihm die Liquidität dazu fehlt und eine Refinanzierung sich in der Kürze der Zeit nicht realisieren lässt, so drohen dem Verbraucher ohne vorherige Mahnung erhebliche Verzugskosten. Zudem drohen ihm die Offenlegung der Lohnabtretung gegenüber dem Arbeitgeber, die Verwertung von sonstigen Sicherheiten und schlussendlich die Zwangsvollstreckung.

3. Wertersatz/Nutzungsentschädigung – Will der Verbraucher sich durch den Widerruf des Kreditvertrags auch vom verbundenen Kaufvertrag lösen, mit dem er die finanzierte Sache erworben hat, entstehen zwei Rückabwicklungsschuldverhältnisse, nämlich jeweils eines mit dem Darlehensgeber und dem Verkäufer der finanzierten Sache. Die Rückabwicklung erfolgt zur Vereinfachung jedoch ausschließlich mit dem Darlehensgeber, das heißt, dieser tritt insofern für die Zwecke der Rückabwicklung beider Verträge in die Schuhe des Verkäufers. Anstelle der Darlehensvaluta kann der Darlehensgeber in solchen Fällen die Herausgabe der Kaufsache (zum Beispiel des finanzierten Autos) verlangen. Der Darlehensnehmer hingegen kann zwar die Rückzahlung der erbrachten Zins- und Tilgungsleistungen und den an den Verkäufer gezahlten Kaufpreis verlangen. Diese Ansprüche stehen jedoch einem Anspruch des Darlehensgebers auf Wertersatz beziehungsweise Nutzungsentschädigung gegenüber.

Nach der Rechtsprechung des BGH bemisst sich der Wertersatz aus der Differenz des Verkehrswertes des Fahrzeuges bei Beginn der Finanzierung und dem Verkehrswert bei der Rückgabe. Wirtschaftlich betrachtet, kann damit der Kunde im Ergebnis das Fahrzeug lediglich zum aktuellen Restwert an die Bank „zurückverkaufen“. Ob dies aber in Zeiten langer Lieferzeiten für Neuwagen und hohen Gebrauchtwagenpreisen sinnvoll ist, erscheint als fraglich.

Deshalb kann ein Widerruf im Ergebnis wirtschaftlich alles andere als zu empfehlen sein.