Geopolitik

Führungsrolle wider Willen

Die Welt um Deutschland herum hat sich verändert, die Bundesregierung will sich geopolitisch neu positionieren. Ein Weiter-so ist keine echte Option.

Führungsrolle wider Willen

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat an der Einstellung der Bundesbürger zur Frage, wie stark sich Deutschland international einmischen soll, bislang überraschenderweise wenig verändert. Im Oktober veröffentlichte die Körber-Stiftung die Ergebnisse ihrer regelmäßigen Umfrage unter mehr als 1000 Bundesbürgern zu deren Erwartungen an die deutsche Außenpolitik. 52% der Befragten – und damit in etwa so viele wie zwölf Monate zuvor – wünschten sich, dass sich „Deutschland weiterhin eher zurückhalten“ solle. Und selbst unter denen, die eine stärkere außenpolitische Teilnahme durchaus begrüßen würden, waren gerade einmal 14%, die damit ein stärkeres militärisches Engagement verbanden.

Mag sein, dass die Präferenz der Menschen hierzulande für eine zurückhaltende und am besten nur auf Diplomatie beschränkte Außen- und Sicherheitspolitik damit zu tun hat, dass es die Bundesbürger aus historischen Gründen für unangemessen halten, wenn sich Deutschland offensiver engagiert. Mag sein, dass die Angst überwiegt, eine Einmischung könne die Gefahr der Ausweitung von Konflikten bis nach Deutschland spürbar erhöhen. Ganz gleich – die Tatsache, dass, wie es der Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Guntram Wolff, jüngst in der „Neuen Züricher Zeitung“ umschrieb, „Deutschland gerne eine große Schweiz“ wäre, stellt die Bundesregierung vor eine doppelt komplizierte Aufgabe.

Zäsur auch für die Außenpolitik

Schließlich ist es schon schwierig genug, den außenpolitischen Kurs an neue Realitäten anzupassen und dem Wunsch der europäischen Nachbarn zu entsprechen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Dabei zu wissen, dass die eigene Bevölkerung Überlegungen hin zu einer Führungsrolle kritisch beäugt, macht die Angelegenheit auf jeden Fall nicht einfacher.

Dass die Bundesregierung umsteuern muss, daran lässt sie keinen Zweifel. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) sprach sich in einer Grundsatzrede zur nationalen Sicherheitsstrategie im September dafür aus, dass Deutschland eine neue Führungsrolle übernehmen müsse, auch militärisch. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hatte bereits zuvor dafür geworben, Deutschland müsse nach Jahren der Zurückhaltung den Anspruch einer Führungsmacht haben. Und dann ist da natürlich die Ansage von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Er hatte in seiner viel beachteten „Zeitenwende“-Rede drei Tage nach dem russischen Überfall im Februar bereits eine Neupositionierung angekündigt: „Putins Krieg bedeutet eine Zäsur, auch für unsere Außenpolitik.“ Dass er dabei durchaus weitreichende Anpassungen im Kopf hatte, zeigt allein seine Ankündigung für die Einrichtung eines Sondervermögens Bundeswehr im Umfang von 100 Mrd. Euro und die Zusage, künftig mehr als 2% des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu investieren.

Tatsächlich hat sich das außen-, verteidigungs- und sicherheitspolitische Umfeld Deutschlands im zu Ende gegangenen Jahr komplett verändert. 2022 besiegelte das Ende vieler Selbstverständlichkeiten. Krieg in Europa, zweistellige Inflationsraten in Deutschland und die ernsthafte Sorge vor Energieengpässen in den nächsten Monaten haben das große Bild radikal verändert. Nicht ganz zu Unrecht werfen übrigens Russland-Experten vor allem aus den Ländern Mittel- und Osteuropas der Europäischen Union und insbesondere der Bundesregierung eine gewisse Blauäugigkeit vor, was die jahrelange Unterschätzung der russischen Bereitschaft zur Aggression angeht.

Um sich künftig nicht erneut den Vorwurf von Naivität einzuhandeln, soll an verschiedenen Stellen angepasst werden. Erstens – schon genannt – durch mehr Geld für Verteidigung, um die Streitkräfte zu stärken und damit mehr Verantwortung übernehmen zu können. Zweitens durch neue multilaterale Initiativen wie den beim G7-Treffen in Elmau mitinitiierten Klimaclub, um einer Frontbildung zwischen Europa und den Schwellenländern entgegenzusteuern. Drittens durch neue Partnerschaften, um alte Abhängigkeiten zu reduzieren. Dazu zählen Bemühungen um engere Beziehungen im asiatisch-pazifischen Raum jenseits von China. So ist es kein Zufall, dass Kanzler Scholz Japan und Indien besuchte, bevor er nach Peking reiste, und auch in Indonesien und Vietnam unterwegs war. Und schließlich viertens – besonders heikel – eine Neujustierung des Verhältnisses gegenüber China.

Aus deutscher Sicht hat sich China in den vergangenen Jahren dramatisch verändert. Staatspräsident Xi Jinping hat 2022 seine Macht zementiert. Der Austausch zwischen Vertretern Europas und Chinas ist auf allen Ebenen rarer geworden – und das liegt nicht nur an der Pandemie. Die Hoffnung auf Wandel durch Handel, also die Annäherung Chinas an die politischen Systeme und demokratischen Werte des Westens, schwindet.

Eine neue China-Strategie

Immer stärker rückt die systemische Rivalität in den Vordergrund. Die Liste der kritischen Punkte wird dabei immer länger: Verletzung der Menschenrechte, extreme Überwachung der Bevölkerung mit neuen Ausmaßen im Zuge der Pandemiebekämpfung, Drohgebärden gegen Taiwan, Unterdrückung der Uiguren, Unterdrückung der Demokratiebewegung in Hongkong, Scharmützel an der Grenze zu Indien.

Anfang des neuen Jahres will die Bundesregierung eine neue China-Strategie präsentieren. Aus den Vorarbeiten von Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck (beide Grüne) drangen bereits einige Überlegungen an die Öffentlichkeit. Eine „robustere“ Handelspolitik. Die Beendigung einzelner Förderungen. Mehr Berichtspflichten für Unternehmen, die in China aktiv sind. Einvernehmen herrscht darüber, dass es eine Änderung im Umgang mit China geben müsse. Gleichzeitig ist die Volksrepublik wirtschaftlich zu wichtig, um sich aus ihr zurückzuziehen.

Immerhin ist das Land nach Angaben des Statistischen Bundesamts 2021 zum sechsten Mal in Folge wichtigster Handelspartner Deutschlands gewesen. Exporte und Importe addierten sich auf fast 250 Mrd. Euro. China ist zweitgrößter Abnehmer deutscher Waren und mit Abstand größter Exporteur von Waren nach Deutschland – in einem Volumen von 143 Mrd. Euro. Das Volumen von Exporten aus den USA war nur halb so hoch.

Wie kompliziert die Ausgestaltung der neuen Beziehungen Deutschlands mit der Volksrepublik wird, darauf haben im November bereits die Vorbereitungen zur China-Reise des Bundeskanzlers einen Vorgeschmack geliefert. Scholz verkürzte seinen Besuch auf – wie es Regierungssprecher Steffen Hebestreit taufte – einen „Tagesausflug“. Aber allein sein „Mitbringsel“, die Genehmigung für die geplante Minderheitsbeteiligung des chinesischen Staatskonzerns Cosco am kleinsten der drei Hamburger Containerterminals des Hamburger Hafen- und Logistikkonzerns, sorgte tagelang für Debatten.

Als wäre die Lage nicht schon kompliziert genug, muss die Bundesregierung ihren Kurs gegenüber China just in einem Mo­ment nachjustieren, in dem es an einer anderen Stelle mächtig hakt, nämlich in den transatlantischen Handelsbeziehungen mit den USA. Mit der Verabschiedung des Inflation Reduction Act, dem IRA, haben die Vereinigten Staaten Deutschland und Europa provoziert. Schließlich sieht das Gesetzespaket großvolumige Subventionen für Unternehmen für klimafreundliche Investitionen vor, sofern sie dabei auf amerikanische Produkte und Dienstleistungen zurückgreifen.

Europäische Handelspolitiker wittern Subventionen, die nicht den Regeln der Welthandelsorganisation entsprechen, und zwar in XXL-Format: Staatshilfen im Volumen von 200 Mrd. Dollar gelten als WTO-widrig. Schon geht die Angst vor einem großen Handelskonflikt um. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat sich umgehend dafür stark gemacht, mit einem „europäischen IRA“ zu kontern. Im Gespräch sind Lockerungen der EU-Beihilferegeln, damit auch hiesige Unternehmen einfacher mit Staatsgeld unterstützt werden können. An anderer Stelle wird gefordert, das EU-Förderprogramm „Repower EU“ auszuweiten oder einmal mehr die Europäische Investitionsbank (EIB) umfassender einzuschalten.

Kommunikation statt Alleingang

Distanzierung gegenüber China auf der einen Seite, selbstbewusste Reaktionen auf den Protektionismus der USA auf der anderen Seite: Deutschland muss in einem schwierigen Kraftfeld zwischen dem wichtigsten Wirtschaftspartner und dem mächtigsten Verbündeten seinen Kurs finden. Keine leichte Aufgabe.

Eine der wichtigsten Lektionen, die die Bundesregierung im abgelaufenen Jahr in der Debatte über Deutschlands künftige Rolle in der Welt mitgenommen haben dürfte, ist freilich: Egal wie sie sich neu positioniert, sie sollte ihre europäischen Partner darüber rechtzeitig auf dem Laufenden halten. Denn so sehr sich viele EU-Nachbarn ein außenpolitisch engagierteres Deutschland wünschen, so sehr sind sie darüber verstört, dass Berlin zuletzt die Kommunikation mit den europäischen Partnern vernachlässigte. Ob beim „Doppelwumms“ oder dem Gaspreisdeckel, wiederholt stellte die Bundesregierung die anderen EU-Mitglieder vor vollendete Tatsachen. Das, so berichten Diplomaten in Brüssel, werde mittlerweile als echtes Ärgernis wahrgenommen.

Mit Blick auf einen stärkeren Führungsanspruch Deutschlands in Europa könnte die Frage der frühzeitigen Einbindung der EU-Partner ein Schlüsselerfolgsfaktor werden. Und ein Schulterschluss mit den anderen EU-Staaten – anstelle des Verdachts von Alleingängen – dürfte zudem auch helfen, um dem Argwohn der Bundesbürger gegen den Anspruch Deutschlands auf eine Führungsrolle entgegenzutreten.

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