Ein Deal zur rechten Zeit
Von Christopher Kalbhenn,
Frankfurt
Der eine oder andere hat sich bei diesem Deal zunächst verwundert die Augen gerieben. Als die Deutsche Börse die Übernahme von 80% der Institutional Shareholder Services (ISS), des führenden Stimmrechtsberaters, bekannt gab, schien nicht ganz nachvollziehbar, wie dieses Unternehmen zu dem Marktbetreiber passen beziehungsweise sein Geschäft sinnvoll ergänzen könnte. Auch wurde prompt über potenzielle Interessenkonflikte diskutiert. Kann ISS künftig ihren Kunden gegenüber vor der Hauptversammlung ihrer Muttergesellschaft eine für deren Führungsgremien gegebenenfalls unangenehme Empfehlung aussprechen? Sosehr die Prominenz von ISS auf ihrem Stimmrechtsberatungsgeschäft beruht: Attraktiv aus Sicht der Deutschen Börse war (und ist) sie vor allem aufgrund eines anderen Geschäftszweigs. ISS ist einer der weltweit führenden Anbieter von ESG-Ratings. ESG steht für Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung oder in einem Wort: für Nachhaltigkeit. Die Deutsche Börse hat damit ein Asset in dem Bereich der Finanzmärkte erworben, der in den kommenden Jahren voraussichtlich die höchsten Wachstumsraten aufweisen wird.
Kein Selbstläufer
Es war auch ein Deal zur rechten Zeit. Seine Bekanntgabe erfolgte, einen Tag bevor der Marktbetreiber seine neue Mittelfriststrategie „Compass 2023“ präsentierte. Schon vor der Vorstellung hatte Vorstandschef Theodor Weimer durchblicken lassen, dass die neue Strategie verstärkt auf Akquisitionen setzen würde. Konkret plant das Unternehmen für die Zeit bis 2023 ein durchschnittliches jährliches Wachstum des Erlöses und des Ergebnisses von 10%. Davon soll die Hälfte, d.h. durchschnittlich 5 % p.a., durch Akquisitionen generiert werden. Die projizierten zusätzlichen Erlöse belaufen sich auf 600 Mill. Euro. Dadurch, dass ISS hinzukam, erhöhte sich der bereits erreichte Teil auf 400 Mill. Euro.
Eine besondere Herausforderung war die Transaktion dadurch, dass die Umstände, unter denen sie zustande kam, aufgrund der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie alles andere als einfach waren, wie es Weimer kürzlich auf der Hauptversammlung des Unternehmens geschildert hat. „Mitten im Pandemie-Chaos ist uns aber dann doch ein Coup gelungen. Die Übernahme von ISS. Bekanntgabe im November 2020. Abgeschlossen drei Monate später bereits. Das Unternehmen hat seinen Sitz in den USA. Vergegenwärtigen Sie sich die Situation letztes Jahr, meine Damen und Herren. Die USA im Corona-Lockdown. Globale Einreisebeschränkungen. Flieger am Himmel mit der Hand zu zählen. „America first!“ Und zudem: ein gespaltenes Land im Wahlkampffieber. Wahrlich: unsere Übernahme in dieser Zeit war kein Selbstläufer. Wir brauchten eine Sondergenehmigung. Um einreisen zu dürfen. Um verhandeln zu können. Von Angesicht zu Angesicht. Wir haben damit (…) die andere Seite beeindruckt. Mehr als mit unserem Kaufpreis.“
Bei anderer Gelegenheit hat Weimer allerdings auch Umstände benannt, die der Transaktion entgegenkamen. Während der Bemühungen um die ISS war die Börsenszene von einem anderen Ereignis elektrisiert beziehungsweise abgelenkt: Dem Verkauf der Borsa Italiana, durch den die London Stock Exchange die Freigabe der Wettbewerbshüter der Europäischen Union für den Zusammenschluss mit dem Finanzdatenkonzern Refinitiv erreichen wollte. Als die Mehrländerbörse Euronext zum Zuge kam, war in den Medien wieder viel die Rede davon, dass die Deutsche Börse in der Börsenkonsolidierung wieder einmal leer ausgegangen und in Sachen Fusionen und Übernahmen nicht gerade besonders erfolgreich sei.
Nach den vielen, zum Teil spektakulär gescheiterten M&A-Versuchen, darunter insbesondere mehrere vergebliche Versuche, mit der London Stock Exchange zu fusionieren, ist das verständlich. Aber der ISS-Deal widerlegt diese Behauptung, ebenso wie viele andere M&A-Transaktionen. Es war eben die Deutsche Börse, die Ende der 90er Jahre mit der Fusion der Deutschen Terminbörse mit der Schweizer Soffex den ersten grenzüberschreitenden Börsenzusammenschluss zustande brachte. Hinzu kommen weitere große und erfolgreiche Zusammenschlüsse, an vorderster Stelle die Fusion der Deutsche Börse Clearing mit dem internationalen Verwahrer Cedel zur Clearstream, die dann später vollständig von dem Marktbetreiber übernommen wurde.
Bisher erschienen:
Deutsche Telekom (28.5.)