Pharmakonzern

Novartis steht unter Zugzwang

„Die mRNA-Technologie hat in einem Maß eingeschlagen, wie es wohl niemand erwartet hätte“, musste Novartis-Verwaltungsratspräsident Jörg Reinhardt in einem Interview eingestehen. Es versteht sich von selbst, dass er mit „niemand“ ganz besonders auch Novartis meinte.

Novartis steht unter Zugzwang

Von Daniel Zulauf, Zürich

Die Pandemie hat den großen Pharmakonzernen auf geradezu brutale Weise ihre Schwächen vor Augen geführt. Das wird auch Novartis-Chef Vasant Narasimhan nicht verbergen können, wenn er die internationale Finanzanalystengemeinde am kommenden Donnerstag zum jährlichen Forschungstag empfängt. „Die mRNA-Technologie hat in einem Maß eingeschlagen, wie es wohl niemand erwartet hätte“, musste dessen Verwaltungsratspräsident Jörg Reinhardt im Sommer in einem Interview eingestehen. Es versteht sich von selbst, dass er mit „niemand“ ganz besonders auch Novartis meinte.

Zwar hat der Konzern 2019 mit der 10 Mrd. Dollar teuren Übernahme von The Medicines Company einen neuartigen Cholesterinsenker eingekauft, der tatsächlich auf der RNA-Technologie basiert (Inclisiran). Doch entwickelt wurde die Therapie in dem erst 18 Jahre bestehenden Forschungsunternehmen Alnylam Pharmaceuticals an der amerikanischen Ostküste. Dort ist das Know-how der Alnylam-Forscher auch geblieben, und es wird an der Börse inzwischen mit 23 Mrd. Dollar bewertet – 10 Mrd. Dollar mehr als vor Ausbruch der Pandemie.

Soll Novartis die Lücke schließen und nun auch die Erfinder von Inclisiran ins eigene Haus holen, wie dies gewisse dealbesessene Finanzmarktakteure durchaus eigennützig dem Schweizer Multi gerade zuflüstern? Seit dem Verkauf der Roche-Beteiligung, die 21 Mrd. Dollar in die Novartis-Kasse spülte, wäre das Geld für eine solche Übernahme mindestens teilweise vorhanden.

Vasant Narasimhan wird seinem Publikum nächste Woche jedoch keine klare Antwort geben können. Immerhin wird er aber konkreter als Anfang November werden müssen, als Novartis den Roche-Verkauf ankündigte. Nach bisheriger Sprachregelung werden die Mittel im Rahmen der „Prioritäten in der Kapitalallokation“ verwendet, will heißen: Man finanziert die üblichen Investitionen, erhöht die Dividende und leistet sich mit dem Rest noch Akquisitionen, sofern die richtigen Objekte gefunden werden.

Die Investoren haben allen Grund, mehr als diese Botschaft zu erwarten. Obschon Narasimhan in seiner vierjährigen Wirkungszeit bei Novartis wirklich keine Zeit verlor, den einst breit diversifizierten Gesundheitskonzern voll und ganz auf die Pharmasparte zu fokussieren und neue Therapiegebiete mit kostspieligen Akquisitionen zu erschließen, verlief der Aktienkurs nur seitwärts. Die einst wertvollste Pharmafirma der Welt ist in der Rangliste auf den 9. Platz abgerutscht. Der Konzern preist sich gern als Vorreiter in technologisch neuen Gebieten wie der Gentherapie oder der Zelltherapie. Doch die hyperteure Hightech-Medizin zur Behandlung schlimmer Erbkrankheiten (Zolgensma) oder besonders aggressiver Krebsarten (Kymriah) hat die Erwartungen der Aktionäre bislang kaum erfüllt.

„Novartis braucht einen Be­freiungsschlag“, sagt ein Finanzanalyst und verweist auf den neuen Spielraum, der mit einem Verkauf der Generika-Tochter Sandoz um bis zu 45 Mrd. Dollar anwachsen könnte. Aber wie müsste ein solcher Be­freiungsschlag aussehen, damit er die Fantasie der Investoren beflügeln könnte? Vielleicht wird Novartis dereinst eine Fusion mit einem Mitbewerber auf Augenhöhe versuchen, um den Geist des Prometheus wieder einzufangen, den das Unternehmen bei seiner Gründung vor 25 Jahren durch den wegweisenden Zusammenschluss der beiden traditionsreichen Basler Konzerne Sandoz und Ciba-Geigy freigesetzt hatte.