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2022 wird ein volatiler Investmentjahrgang

Aus technischer Sicht zeichnet sich für den Aktienmarkt ein herausfordernder, schwankungsintensiver Investmentjahrgang mit Vorteilen für unterbewertete Titel aus klassischen Sektoren ab.

2022 wird ein volatiler Investmentjahrgang

Von Jörg Scherer*)

Die Aktienmärkte sind holprig in das neue Jahr gestartet. Besonders die Highflyer der letzten Dekade aus den USA mussten im Januar Federn lassen. Unter dem Strich fuhr der S&P 500 ein Minus von 5,3% ein, während der technologielastige Nasdaq 100 sogar einen Abschlag von 8,5% verkraften musste. Ein schlechtes Omen für 2022? Schließlich lautet eine alte Börsenweisheit: „Wie der Januar, so auch das Gesamtjahr.“ Dieses Börsenbonmot und die charttechnischen Perspektiven der US-Indizes im Gesamtjahr wollen wir im Folgenden genauer untersuchen.

Im ersten Schritt fühlen wir der „Prognosekraft“ des sogenannten „Januar-Barometers“ auf den Zahn. Hierzu werten wir beim S&P 500 die Daten seit dem Jahr 1928 aus. Die Durchschnittsperformance al­ler Jahre betrug über die letzten gut 90 Jahre 7,66%. Unter der Prämisse eines erfolgreichen Jahresauftakts steigt die durchschnittliche Wertentwicklung auf 13,07%. Offensichtlich trennt der „Januar-Indikator“ die Spreu vom Weizen, denn ein schwacher Jahresauftakt stellt mit einem durchschnittlichen Gesamtjahresertrag von –1,31% tatsächlich eine Hypothek dar. Auf Basis der Daten seit 1928 folgt beim S&P 500 demnach auf einen schwachen Jahresauftakt im Durchschnitt auch ein schwaches Gesamtjahr – und zwar in 19 von 35 Jahren. Das heißt, das „Januar-Barometer“ weist eine Trefferquote von gut 54% auf. Da bereits die ersten fünf Handelstage von einer Kursschwäche gekennzeichnet waren, liefert nun die negative Wertentwicklung im Januar ein weiteres Warnsignal.

Markt heißgelaufen

In diesem Zusammenhang sorgt das Thema „Bewertung“ für eine zusätzliche Dimension. Normalerweise ein klassischer fundamentaler Einflussfaktor, bilden technische Analysten diesen Themenkomplex über quantitative Indikatoren ab. So notierte z. B. der RSI auf Monatsbasis praktisch das gesamte Jahr 2021 im überkauften Terrain und weist zudem seit dem Jahresultimo 2017/18 eine massive negative Divergenz aus. Gleichzeitig befindet sich der MACD auf absoluten Rekordniveaus, denn der Trendfolger hat die alten Hochs von 1999/2000, 2007 und 2018 regelrecht pulverisiert. Um zu verdeutlichen, wie heißgelaufen die gegenwärtige Situation ist, haben wir in den Verlauf des MACD seit 1996 einen Regressionskanal gelegt. Beide Linien des Trendfolgers notieren außerhalb des entsprechenden Regressionskanals, d. h. der Indikator weicht um mehr als zwei Standardabweichungen vom Mittelwert ab. Damit sind bei einem der Highflyer der letzten Dekade im Jahr 2022 keine großen Sprünge zu erwarten. Vielmehr dürften Korrekturen in der überhitzten Gemengelage auf fruchtbaren Boden fallen, zumal der RSI gerade ein neues Ausstiegssignal generiert hat.

Charttechnisch signalisiert der Rückfall in den Basishaussetrendkanal der letzten Dekade (obere Begrenzung aktuell bei 4632 Punkten), dass die Luft für den S&P 500 dünner wird. Schließlich sorgt die Rückkehr in den langfristigen Trendkanal nach der fulminanten Rally seit März 2009 für ein deutliches Bremsmanöver. Damit steht eine weitere Tradingweisheit im Raum: „Was es nach oben versucht hat und gescheitert ist, versucht es in der Folge nach unten.“ Entsprechend definieren die verschiedenen Hoch- und Tiefpunkte bei rund 4200 Punkten den nächsten wichtigen Auffangbereich. Sollte auch diese Bastion unterschritten werden, müssen Anleger von einem Wechsel der „big figure“ – sprich einem Abgleiten unter die Marke von 4000 Punkten – ausgehen. Selbst eine scharfe Korrektur, inklusive eines Auslotens der Kumulationszone aus der 38-Monats-Linie (aktuell bei 3479 Punkten), der unteren Trendkanalbegrenzung (ak­tuell bei 3412 Punkten) sowie dem „Vor-Corona-Hoch“ bei 3394 Punkten kann dann nicht ausgeschlossen werden.

Korrekturanfälliges Quartal

Wenngleich der S&P 500 nach dem schwachen Jahresauftakt das Schlimmste zunächst überstanden haben dürfte, überwiegen langfristig doch die Belastungsfaktoren. Hierzu zählen gemäß dem Dekadenzyklus auch die saisonalen Rahmenbedingungen. Gemessen am durchschnittlichen Verlauf des Dow Jones in „2er Jahren“ – also 1902, 1912, 1922,… 2012 – stechen vor allem die zyklische Dürreperiode von Ende März bis Ende Juni sowie der unterdurchschnittliche Ge­samtjahresertrag hervor. Besonders ab März/April droht den amerikanischen Standardwerten deshalb möglicherweise eine zweite Abverkaufswelle.

Viele institutionelle Investoren orientieren sich bei ihren Engagements an den Investmentstilen „Value“ und „Growth“. Deshalb zählt der Ratio-Chart zwischen dem MSCI World Value und dem MSCI World Growth derzeit zu den am intensivsten diskutierten Chartverläufen. Nach 15 Jahren mit zum Teil dramatischer Underperformance stehen Value-Titel möglicherweise vor einem Comeback. Ein potenzieller Doppelboden seit Mai 2020 liefert einen ersten Fingerzeig in diese Richtung. Ein Bruch des steilen Abwärtstrends seit Ende 2016 – verbunden mit einer Rückkehr in den seit über 15 Jahren bestehenden Baissetrendkanal – würde in diesem Kontext für den endgültigen Abschluss der diskutierten unteren Umkehr sorgen. In der Summe aller Aspekte ergibt sich für uns ein herausfordernder, schwankungsintensiver Investmentjahrgang mit Vorteilen für unterbewertete Titel aus klassischen Sektoren.

*) Jörg Scherer ist Leiter Technische Analyse bei HSBC Deutschland.