Aktien auch nach dem Epochenbruch essenziell
Zwei Jahre Pandemie hat die Weltwirtschaft dank historisch großer Rettungspakete erstaunlich gut weggesteckt. Doch nun ziehen am Horizont konjunkturelle Gewitterwolken auf. Putins Angriff auf die Ukraine, die daraus resultierende breite Rohstoffpreiskrise sowie eine säkular-geopolitische Blockverhärtung zwischen regelbasierten Demokratien und machtzentristischen Autokratien haben einen bereits angelegten Trend beschleunigt: hohe Unsicherheit, galoppierende Güterpreise bei Teilen der Grundversorgung und eine 180-Grad-Wende bei der internationalen Lieferkettenoptimierung zurück zu mehr eigener Fertigungstiefe. Prima vista sind die Rezessionsrisiken deutlich gestiegen – wohl noch nicht zwingend für dieses Jahr, aber für danach.
Überhitzte Indikatoren wie sehr gut beschäftigte Arbeitsmärkte und positive Produktionslücken deuten mittelfristig in Richtung ungemütlicherer Zeiten. Hinzu kommen Warnsignale vom Finanzzyklus, wie etwa eine rekordhohe gesamtwirtschaftliche Verschuldung und heiß gelaufene Wohnimmobilienmärkte. In der Vergangenheit erwies sich der zweieiige Zwilling des Konjunkturzyklus oft als sehr verlässlicher Indikator für Turbulenzen. Dass nun beide nahezu zeitgleich an oberen Wendepunkten stehen, ist ein Alarmsignal.
Diese Situation setzt die Notenbanken in den Industrieländern – allen voran die Europäische Zentralbank (EZB) – unter Druck. Über die vergangenen Jahre hatte sich infolge einer „absichtlich“ hinterherhinkenden Geldpolitik, der Reregionalisierung, der demografischen Alterung und der Kosten des Klimawandels bereits struktureller Inflationsdruck aufgebaut. Dieser entlädt sich nun durch die nochmaligen multiplen krisenbedingten Disruptionen der Angebotsseite. Ohne jeden Zweifel muss die Geldpolitik deutlich gestrafft werden und real positive Leitzinsen implementieren. Der mögliche zukünftige Inflationssockel von grosso modo „4 als der neuen 2“ (Prozent) zeigt den weiten Weg an, den aber viele Notenbanker vermutlich nicht zu gehen bereit sind. Die amerikanische Zentralbank hat deshalb für sich zwei kumulativ wirkende geldpolitische Pfeile definiert: Neben erstens höheren Zinsen werden zweitens quantitative Straffungsmaßnahmen in Form einer Verkürzung der Notenbankbilanz und damit ausgelösten umgekehrten Portfolioeffekten zu einer geschmeidigen Verschlechterung der finanziellen Bedingungen führen. Die implizite Hoffnung dabei ist, dass die Güterpreise dann überschaubar korrigierenden Vermögenspreisen folgen.
Harte Landung
Für die Konjunktur wiederum birgt dies Gefahren – und das zeigt auch die historische Erfahrung mit zyklischen Abschwüngen: Eine durch den Dreh in der Geldpolitik beabsichtigte „sanfte Landung“ ist zwar ein theoretisch charmantes Szenario, in der Praxis wird dies aber schwer zu bewerkstelligen sein. Vielmehr zeigen auf strukturellen Faktoren beruhende Modelle eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine mittelfristig harte Landung an.
Dies hat Implikationen für die Kapitalanlage. Zunächst einmal müssen Anleger ihre Erwartungen hinsichtlich der künftigen Performance anpassen, im Klartext: herunterschrauben. Das gilt neben Aktien insbesondere für Anleihen, deren Kurse im Zusammenhang mit der Zinswende – trotzt der zuletzt schon historisch starken Kursverluste – noch weiter fallen können. Selbst von einem mittelfristig höheren Zinssockel aus dürften die dann zwar nominal wieder leicht positiven Renditeschätzungen niedriger sein als in früheren Dekaden. Denn: Mit dem Auslaufen der Zentralbanken-Kaufprogramme entfällt ex ante ein wichtiger preisstützender Bestimmungsfaktor.
Eng hiermit zusammenhängend ist das Thema „Überdenken von Risikobudgets“. Letztere sind infolge der Marktreaktionen auf den Angriff auf die Ukraine vielfach erschöpft. Für institutionelle Investoren ist eine Dynamisierung, also der regelmäßige Wiederaufbau von Risikobudget, essenziell für einen Wiedereinstieg in den Markt. Für private Anleger ist das zwar weniger relevant; psychologisch ist das Kalenderjahr aber oft eine mentale Bürde, was einer gewissen Kurzatmigkeit und Prozyklik beim Anlageverhalten Vorschub leistet. Dynamische Betrachtungen hingegen stehen für das Gegenteil: den systematischen und regelmäßigen Markteintritt, etwa mittels eines Sparplans, und damit den Einbau von Disziplin und Antizyklik.
Die Finanzmarktentwicklungen in naher Zukunft werden vermutlich turbulent und herausfordernd bleiben. Der in diesen Tagen im geopolitischen Raum vielfach zitierte Epochenbruch hallt nach. Gleichwohl erscheint in der Volkswirtschaft und an der Börse das Wortbild eines Gezeitenwechsels angemessener. Denn bei aller verständlichen Sorge sind Abschwünge und Rezessionen wiederkehrende Wesensbestandteile des klassischen Konjunkturzyklus. Sie sind im theoretischen Sinne des bekannten Wirtschaftswissenschaftlers Joseph Schumpeter wie Gewitter, die Übertreibungen und Fehlentwicklungen – und übrigens auch Inflation – bereinigen und somit eine zyklische Immunisierung des Ökosystems herbeiführen können. „Per aspera ad astra“, lehrt Seneca – der Weg zu den Sternen führt über raue Pfade. Eine überzogene Furcht oder gar Dämonisierung erscheint nicht zwingend angezeigt, zumal Rezessionsjahre in den Kapitalmärkten nicht selten ganz ordentliche Jahrgänge waren. Möglicherweise leiden angesichts eines durch Knappheit geprägten Faktors Humankapital die Arbeitsmärkte in Abschwüngen mittlerweile auch weniger als in der Vergangenheit.
Reale Werte gefragt
Mit Blick auf die Asset Allocation bleiben trotz aller Unsicherheiten reale Werte – vor allem auch Aktien – von enormer Bedeutung für die langfristige Vermögensbildung und für regelmäßige Einkommen, Stichwort Dividenden. Dabei kommt es aber mehr denn je auf die Analyse der Qualität von Geschäftsmodellen an, um Gewinner und Verlierer zu identifizieren. Einzelwerteauswahl und aktiveres Management bei hoher Grundausdauer sind somit mehr denn je Schlüssel zum Erfolg. Denn wie eine alte Börsenweisheit besagt: Die Flut hebt alle Boote – aber erst bei Ebbe sieht man, wer ohne Badekleidung schwimmt.