IM INTERVIEW: PETER WESTAWAY, VANGUARD

"Aktien haben noch Spielraum"

Chefvolkswirt: Europas Wirtschaft möglicherweise Ende 2021 wieder auf Niveau von vor der Pandemie

"Aktien haben noch Spielraum"

Peter Westaway ist zuversichtlich, dass die Aktienmärkte auch nach dem von Impfstofferfolgen ausgelösten starken Kursschub vom November weiter zulegen werden. Der Chefvolkswirt der europäischen Niederlassung von Vanguard geht davon aus, dass Dividendentitel im nächsten Jahr weiter von der Geldpolitik gestützt werden und die europäische Wirtschaft gegen Ende 2021 wieder das Niveau von vor der Corona-Pandemie erreicht. Herr Westaway, wann bzw. in welchem Ausmaß kann Ihrer Meinung nach mit Hilfe von Coronaimpfstoffen eine Normalisierung des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft gelingen?Es ist die entscheidende Frage für das nächste Jahr, wie viele Menschen in welchem Zeitraum immunisiert werden. Wir gehen davon aus, dass die Lücke für eine Normalisierung allmählich geschlossen wird und damit auch die Produktionslücke sich allmählich normalisieren wird. Um die Jahresmitte herum werden in Europa viele Menschen geimpft sein. Die Menschen werden dann auch wieder genug Vertrauen haben, um wieder Geld auszugeben. Bis dahin wird jedoch das BIP bis Ende dieses Jahres und Anfang 2021 durch intensivierte Lockdowns in Großbritannien und in vielen Ländern Europas sinken. Ab dem Frühjahr wird sich die Lage verbessern. Wann wird das wirtschaftliche Niveau von vor der Pandemie erreicht?Das wird länger dauern. Europa wird möglicherweise Ende 2021 so weit sein, Großbritannien vielleicht ein Vierteljahr später. Zudem ist an die Möglichkeit zu denken, dass die Wirtschaft, selbst wenn sich die Lage normalisiert, nicht mehr auf den Pfad von vor der Pandemie zurückkehrt. Viele Unternehmen werden in die Insolvenz gehen, viele Arbeitslose werden nicht so schnell wieder eine Anstellung finden. Letztendlich wird die verloren gegangene Wirtschaftsleistung zurückgewonnen. Aber das wird noch Jahre dauern wie nach anderen schweren Schocks wie der Großen Finanzkrise auch. In welchen Bereichen sehen Sie besonders hohe Insolvenzrisiken?In allen Bereichen, die besonders stark unter der Pandemie leiden, also etwa im stationären Einzelhandel sowie in den Tourismus- und Unterhaltungsbranchen. Wollen die Leute wieder in die Restaurants und Theater gehen? Natürlich, sie werden das tun. Aber wenn die Betriebe insolvent werden, werden sie nicht so schnell wieder öffnen. Welche langfristigen strukturellen Folgen der Pandemie erwarten Sie?Es wird einige permanente Veränderungen geben. So werden die Menschen künftig mehr im Homeoffice und somit weniger in Büros arbeiten. Auch werden sie mehr online einkaufen als im stationären Handel. Diese Trends gab es schon vorher, aber sie sind durch die Pandemie beschleunigt worden. Der Trend zum Homeoffice wird auch zu Verschiebungen bei den bevorzugten Wohnorten führen, d. h. Menschen werden eher Vororte wählen als Innenstädte. Es wird außerdem etwas weniger Reiseverkehr geben, weil es mehr Online-Meetings geben wird, was zulasten der auf internationalen Luftverkehr fokussierten Airlines gehen wird. Welche Folgen erwarten Sie für die Globalisierung?Es gab durch den Protektionismus vor allem der USA bereits vor der Pandemie einen Rückschlag für die Globalisierung. Unternehmen haben nun gemerkt, dass es gefährlich sein kann, Lieferketten in einem einzelnen anderen Land zu haben. Es wird daher Produktion zurückgeholt werden und Lieferketten im Ausland stärker diversifiziert werden. Auch durch die zu erwartende Reduzierung der Reiseaktivitäten wird es weniger Globalisierung geben. Aber nach der Pandemie wird man auch wieder zur Kenntnis nehmen, dass wir voneinander abhängig sind und Wissen und Erfahrungen austauschen müssen. Haben die Aktienmärkte die sich abzeichnende Normalisierung bereits eingepreist oder sehen Sie noch Potenzial nach oben?Märkte antizipieren die Zukunft. Daher haben sie bereits auf die Impfstofferfolge reagiert und sind die Aktienmärkte in Europa und in den USA so stark gestiegen. Aktien haben unserer Einschätzung nach noch Spielraum nach oben. Aber es gibt durchaus auch Abwärtsrisiken. So könnten etwa die Impfstoffe nicht so gut und schnell wirken wie derzeit erhofft. Damit rechnen wir allerdings nicht, weil die Daten sehr gut aussehen. Wir werden wahrscheinlich einen stärkeren Anstieg der Aktienmärkte in Europa als in den USA sehen. Dort ist die Normalisierung in größerem Umfang eingepreist. Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit einer signifikanten Rotation in zyklische bzw. Value-Aktien ein?Value-Aktien haben lange underperformt und ein verlorenes Jahrzehnt seit der Finanzkrise hinter sich. Seit dem November bzw. den Impfstofferfolgen haben wir eine Outperformance gesehen. Nun gibt es eine gute Chance, dass sie Growth-Aktien outperformen werden. Die Wahrscheinlichkeit einer Outperformance in den kommenden fünf Jahren veranschlagen wir mit zwei Dritteln. Welche Rolle spielen die Notenbanken?Die Coronakrise hat die Unternehmensgewinne hart getroffen mit der Folge, dass anfänglich die Risikoprämien am Aktienmarkt gestiegen sind. Mittlerweile sind sie wieder gesunken. Einer der Hauptgründe dafür, dass die Aktienmärkte nicht fallen, sind die Unterstützungsmaßnahmen der Notenbanken und der Regierungen. Die Zinsen sind extrem niedrig, was geholfen hat, die Bewertungen anzuheben. Wir rechnen nicht in absehbarer Zeit mit einem Ende der lockeren Geldpolitik. Was sollen Anleger, die in Anleihen investieren müssen, tun?Die Botschaft, die jetzt gilt, galt schon vor der Pandemie. Für Investoren ist es wichtig sich daran zu erinnern, warum sie Anleihen kaufen. Anleihen haben die Funktion, das Portfolio zu stabilisieren. Damit bieten sie eine Abfederung bei fallenden Aktienkursen. Als die Aktienmärkte im März einbrachen, haben sich Anleihen in die andere Richtung bewegt. Die negativen Zinsen haben dazu geführt, dass Investoren auf der Suche nach Rendite verstärkt zu Schwellenländer- und Hochzinsanleihen gegriffen haben. Sie haben damit begonnen, im Anleihebereich in aktienähnliche Instrumente zu gehen. Damit könnten sie Risiken eingehen, die über das Maß hinausgehen, mit dem man sich üblicherweise wohlfühlen würde. Das Interview führte Christopher Kalbhenn.