Amazon genießt die Gunst der Regierungen
Von Dieter Kuckelkorn, Frankfurt
Nun ist wirklich der erste Milliardär in den Weltraum geflogen. Während der Virgin-Atlantic-Gründer Sir Richard Branson vor etwas mehr als einer Woche nur in die Nähe des Weltraums gekommen ist, hat Amazon-Gründer Jeff Bezos jetzt die sogenannte Kármán-Linie, die nach internationaler Übereinkunft in der Höhe von 100 km den Beginn des Weltraums markiert, mit einer maximalen Flughöhe seiner Rakete von 106 km überwunden. Sein Weltraumunternehmen Blue Origin ist zwar nicht börsennotiert, sein E-Commerce-Riese Amazon hingegen schon – und dessen Aktie hat im Zuge der Coronakrise einen Höhenflug hingelegt. Mit den Lockerungsmaßnahmen rund um den Globus hat die Performance von Amazon allerdings nachgelassen und ist hinter den S&P500 zurückgefallen. So hat die Aktie von Amazon auf Sicht von zwölf Monaten 20% hinzugewonnen, der S&P500 jedoch 33%. Seit Jahresbeginn kam Amazon auf einen Anstieg von 10%, der S&P500 hingegen auf rund 16%.
Andere Technologiekonzerne haben sich besser geschlagen. Im laufenden Jahr hat Alphabet (Google) um 46% zugelegt, auf Sicht von einem Jahr um 63%. Apple kletterte um 10% bzw. 57%, Facebook um 27% bzw. 49% und Microsoft um 27% bzw. 39%.
Wechsel an der Spitze
Ausgerechnet in der für die Amazon-Aktie kritischen Wiederöffnungsphase nach der Pandemie gibt es einen Wechsel an der Spitze des Konzerns. Gründer Bezos überließ am 5. Juli die Führung des Gesamtunternehmens Andy Jassy, der zuvor die margenstarke Cloud-Sparte Amazon Web Services (AWS) leitete, um sich selbst lieber seinem Raumfahrt-Hobby zu widmen. Nach Einschätzung der Analysten von Independent Research handelt es sich nicht um einen großen Einschnitt, denn Bezos wird als Vorsitzender des Verwaltungsrates weiterhin in sämtliche wichtigen strategischen Entscheidungen des Unternehmens eingebunden sein, was die Auswirkungen des Personalwechsels auf das operative Geschäft begrenze.
Dementsprechend ist die Analystengemeinde weiter angetan von der Aktie. Von 50 Banken, die den Titel auf ihrem Radarschirm haben, raten 43 zum Kauf, fünf stufen Amazon mit „Overweight“ ein und nur zwei mit „Hold“. Verkaufsempfehlungen oder auch nur „Underweight“-Anlageurteile gibt es keine. Das durchschnittliche Kursziel für die Aktie liegt bei 4270 Dollar, was bezogen auf das aktuelle Kursniveau von 3585 Dollar einen Anstieg von rund 19% auf Sicht von zwölf Monaten bedeuten würde. Damit dürfte klar sein, dass die Phase der Flucht der Anleger aus den großen Technologiewerten vorbei ist – auch was Amazon betrifft.
Die Herausforderungen, denen sich Jassy gegenübersieht, liegen auch nicht so sehr darin, dass etwa die Ertragsbasis in Gefahr wäre. Nach wie vor entfällt beispielsweise fast die Hälfte des deutschen Onlinehandels auf Amazon. Auch besteht nicht etwa die Gefahr, dass Amazon und die anderen großen amerikanischen Technologiekonzerne wie normale Unternehmen nennenswert Steuern zahlen müssten. So hat die EU-Kommission im Mai des laufenden Jahres vor dem Europäischen Gerichtshof mit dem Versuch, Luxemburg zur Rücknahme von Steuervergünstigungen in Höhe von 250 Mill. Euro plus Zinsen zu bewegen, eine Bauchlandung hingelegt. Insofern verwundert es nicht, dass Amazon im abgelaufenen Jahr bei Erlösen von 360 Mrd. Dollar und einem Nettogewinn von 21,3 Mrd. Dollar nur 2,9 Mrd. Dollar an Gewinnsteuern gezahlt hat. Das Prinzip, Tochtergesellschaften dort zu gründen, wo sich Regierungen auf steuersparende Deals einlassen, hat sich bewährt. Angesichts der nach wie vor brillanten Perspektiven wirkt auch das Kurs-Gewinn-Verhältnis auf Basis der Ergebnisschätzungen der kommenden zwölf Monate von 68 wohl kaum hemmend.
Die Herausforderungen, denen sich Jassy zu stellen hat, sind andere: So betonen die Analysten von Independent Research, diese lägen in der Außendarstellung und der Verbesserung der Unternehmenskultur, wobei sie ausdrücklich auf den Umgang des Konzerns mit Konkurrenten und Kunden auf dem eigenen Marktplatz sowie auf die Dauerüberwachung und die niedrigen Löhne der Mitarbeiter hinweisen, die zu starken Konflikten mit den Gewerkschaften und starker Kritik von Seiten der Politik und der Öffentlichkeit führten. Man sei aber zuversichtlich, so Independent Research, dass Jassy dies gelingt.
Dazu trägt entscheidend bei, dass Amazon nicht nur in den Niedrigsteuerländern mit Sitz der Tochtergesellschaften politisch gut verdrahtet ist, sondern auch in den USA. So ist AWS ein wichtiger Lieferant von Cloud-Lösungen für das Pentagon. Das amerikanische Verteidigungsministerium hat jetzt eine in der Trump-Ära getroffene Entscheidung, den Wettbewerber Microsoft mit einem 10 Mrd. Dollar schweren Cloud-Auftrag zu beglücken, rückgängig gemacht. Erwartet wird, dass AWS den Auftrag erhält, womit bereits 2019 bei der ursprünglichen Auftragsvergabe gerechnet worden war.
Stromlinienförmig verhalten
Gegenüber der US-Regierung verhält sich Amazon stromlinienförmig. So wurden jetzt die Cloud-Dienstleistungen für den israelischen Spyware-Hersteller NSO Group nach Bekanntwerden des Abhörskandals kurzfristig eingestellt. Mit der Spionagesoftware Pegasus soll die NSO Group bis zu 50000 Personen abgehört haben, darunter Rechtsanwälte, Aktivisten für Menschenrechte, Journalisten und Politiker aus vielen Ländern. In der Branche wird allgemein vermutet, dass die US-Regierung und insbesondere deren elektronischer Geheimdienst NSA hinter der gezielten Information der Öffentlichkeit über die Aktivitäten der NSO Group steckt. Unter der Biden-Administration hat sich das amerikanisch-israelische Verhältnis merklich abgekühlt.
Im Kontrast dazu entwickelt sich die Beziehung zwischen Washington und Amazon. So ließ es sich US-Präsident Joe Biden nicht nehmen, Bezos über seine Pressesprecherin öffentlich zu seinem Weltraumflug zu gratulieren. Dadurch wird deutlich, dass der Aufbau einer umfassenden Einzelhandelsplattform samt verbundener Logistik und das Angebot von Cloud-Dienstleistungen kein Alleinstellungsmerkmal mehr ist – das glänzende Verhältnis zu allen wichtigen Regierungen hingegen schon.
(Börsen-Zeitung,