Brasilien auf Erholungskurs

Aktienmarkt auch 2019 im Höhenflug - Politik von Präsident Jair Bolsonaro bleibt Risikofaktor

Brasilien auf Erholungskurs

Auch im laufenden Jahr legt der brasilianische Aktienmarkt deutlich zu. Getrieben wird er von Hoffnungen auf eine konjunkturelle Belebung, den von Präsident Jair Bolsonaro angestoßenen Reformen und den auf ein Rekordtief gefallenen Leitzinsen. Von Andreas Fink, Buenos AiresBrasilianische Aktien erfreuen sich auch in diesem Jahr großer Beliebtheit. Der Bovespa hat kürzlich bei 109 627 Punkten in Rekordhoch erreicht. Mit derzeit 106 517 Zählern hat er in diesem Jahr 17 % zugelegt. Damit hebt sich der Aktienmarkt nicht sonderlich von anderen ab. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass er bereits in den drei Vorjahren jeweils deutlich zugelegt hat.Zur derzeit guten Entwicklung trägt bei, dass sich die wirtschaftliche Aktivität in Brasilien im September beschleunigt hat und Anlass zur Hoffnung einer Konjunkturbelebung gibt. Der IBC-Br-Konjunkturindex der Zentralbank, ein Frühindikator für das Bruttoinlandsprodukt (BIP), kletterte gegenüber August um 0,4 % und lag damit deutlich über dem Wachstum von 0,1 % im Vormonat. Der Index stieg im dritten Quartal gegenüber dem zweiten Quartal um 0,9 %, so die saisonbereinigten Daten. Im Vergleich zum September 2018 stieg der Index um 2,1 %, wie die Zentralbank mitteilte.Im zweiten Quartal hatten die Investitionen einen Zuwachs verzeichnet, aber die Exporte ließen nach. Sollten sich die USA und China annähern, wäre das wohl positiv für Brasiliens Exporte. Andererseits könnte Brasilien aber auch von einer Zuspitzung des Handelskonfliktes profitieren, falls China etwa Agrareinfuhren aus den USA mit brasilianischen Produkten ersetzen sollte. Analysten von Commerzbank Research rechnen mit einer moderaten Erholung der Exporte.Nach dem Willen von Finanz- und Wirtschaftsminister Paulo Guedes soll der Privatsektor künftig den Staat als Wachstumsmotor in Lateinamerikas größter Volkswirtschaft ablösen. Allein im Juli wurden – direkte Folge von Bürokratieabbau – mehr als 281 000 neue Unternehmen registriert, insgesamt gibt es gut 4,5 Millionen Unternehmen in dem fünftgrößten Flächenstaat der Welt. Guedes prophezeite in der Vorwoche, dass das BIP des privaten Sektors im nächsten Jahr um 3 % steigen werde, während die öffentlichen Ausgaben nicht zulegen sollen.Daten des Wirtschaftsministeriums zeigen, dass das Bruttoinlandsprodukt des privaten Sektors im zweiten Quartal dieses Jahres mit einer um 2,2 % gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist, während das BIP-Anteil staatlicher Unternehmen um 1,6 % zurückging. Brasiliens Privatsektor macht derzeit etwa knapp 80 % der Gesamtwirtschaft aus. Keine schnellen ErfolgeViele Ökonomen halten Guedes` Ziele für erreichbar, warnen aber davor, dass greifbare Vorteile nicht sofort spürbar sein werden. “Die Gesellschaft wird im nächsten Jahr vor allem die öffentlichen Sparmaßnahmen spüren”, sagte Solange Srour, Chefökonomin bei ARX Investimentos. “Auswirkungen auf Beschäftigung und Einkommen werden freilich auf sich warten lassen, weil es so viel Spielraum auf dem Arbeitsmarkt gibt.” Noch immer sind mehr als 13 Millionen Brasilianer als arbeitslos registriert, das entspricht etwa 13,2 % der arbeitsfähigen Bevölkerung. Zudem gelten 28,5 Millionen Personen als unterbeschäftigt.Die Diskussion über den Übergang von der öffentlichen zur privaten Wirtschaft ist zunehmend Thema der Zentralbank und Währungsausschusses Copom. Die Zentralbank senkte im vergangenen Monat den Leitzins Selic auf ein Rekordtief von 5 % und kündigte eine Reduktion um weitere 50 Basispunkte im Dezember an. Leitzins bei 4 Prozent erwartetZentralbankpräsident Roberto Campos Neto versicherte, dass niedrigere langfristige Anleiherenditen und Zinssätze ebenso wichtig seien wie die Senkung des offiziellen Selic-Zinses, da sie den Privatsektor ermutigten, langfristige Projekte zu finanzieren. Beim Banco Itaú sieht man angesichts weiterhin niedriger Inflationserwartungen Anzeichen für eine weitere Zinssenkung. Im kommenden März könnte der Selic auf 4 % sinken, so das Bankhaus in einer kürzlich publizierten Studie.Niedriger Zinssätze könnten die Landeswährung Real anfälliger machen in Phasen erhöhter Risikoaversion, schreiben die Itaú-Analysten, aber andererseits könnte eine Entspannung im Welthandel solche Effekte ausgleichen. Itaú rechnet mit einem Durchschnittswert von 4 Real Pro Dollar im Jahr 2019 und 4,15 Real Pro Dollar im Jahr 2020. Die Commerzbank prognostiziert für 2020 mit 4,10 Real. Pensionsreform TriebfederTriebfeder des Optimismus ist die Reform des Pensionssystems, die seit dem 12. November offiziell Gesetz ist. Sie soll zwischen 2020 und 2029 Einsparungen in Höhe von 738 Mrd. Real (rund 160 Mrd. Euro) ermöglichen. Nun bereitet der Wirtschaftsminister eine Reihe weiterer Strukturveränderungen – etwa eine Steuerreform – vor, die das Vertrauen der Investoren in Brasilien wiederherstellen und das Land nach der schwersten Rezession seiner Geschichte in den Jahren 2015 und 2016 auf einen nachhaltigen Wachstumspfad bringen sollen. In den beiden zurückliegenden Jahren hatte das BIP jeweils nur enttäuschende rund 1 % zulegen können.Anfang November präsentierte der Präsident Jair Bolsonaro dem Kongress ein Paket von Maßnahmen, um die öffentlichen Finanzen zu verbessern, Bürokratie abzubauen und Privatisierungen zu beschleunigen. Das Projekt mit dem Namen “Plan Más Brasil” soll es etwa Gemeinden ermöglichen, ohne Zustimmung des Kongresses einen “Finanznotstand” auszurufen, sobald ihre laufenden Ausgaben 95 % ihres Einkommens übersteigen. Dieser Mechanismus würde sie ermächtigen, Arbeitszeiten und Gehälter der öffentlichen Angestellten vorübergehend zu reduzieren. Zudem sollen künftig Gemeinden mit weniger als 5 000 Einwohnern größeren Gemeinden angeschlossen werden. Damit könnte, so errechnete Guedes, in den nächsten 15 Jahren 400 Mrd. Real (rund 87 Mrd. Euro) eingespart werden, was die Nachhaltigkeit der Rentenregelungen über einen längeren Zeitraum gewährleisten könne. Plan Más Brasil gefährdetMarktteilnehmer sehen die Chancen auf eine Umsetzung des “Plan Más Brasil” allerdings eher reserviert. Das liegt an einer Achillesferse der brasilianischen Politik: der Kleinteiligkeit des Kongresses. Weil in Brasilien die Abgeordneten direkt und nicht über Parteilisten gewählt werden, sind im Repräsentantenhaus Vertreter aus mehr als 30 unterschiedlichen Parteien vertreten. Die Mehrzahl der Abgeordneten ist – eine Reaktion auf den Petrobras-Skandal, der unter der Ägide der linken Arbeiterpartei ablief – heute dem konservativen Spektrum zuzuordnen. Darum war es möglich, dass der ebenfalls konservative Parlamentspräsident Rodrigo Maia die Mehrheit für die Reform des Pensionssystems zusammenbringen konnte. Weil jedoch im kommenden Jahr Kommunalwahlen anstehen, könne es gut sein, dass viele Abgeordnete keine weiteren Belastungen für ihre Wähler mittragen wollen. Die Analysten des Banco Itaú rechnen nicht mit einer Annahme des “Plan Más Brasil”.Uneins ist der Finanzsektor noch über mögliche Auswirkungen der Haftentlassung des Ex-Präsidenten Lula. Dieser war vor zwei Wochen nach einem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofes aus dem Gefängnis in Curitiba entlassen worden. Gegen ihn laufen noch sechs weitere Strafverfahren, daher sei nicht mit einer neuen Kandidatur zu rechnen, glauben die meisten Fachleute.Allerdings dürfte der PT-Gründer versuchen, den Widerstand in der Bevölkerung gegen den Kurs von Wirtschaftsminister Guedes zu schüren. Das wiederum könnte eine Radikalisierung des chronische reizbaren Präsidenten Bolsonaro und dessen politisch aktiven Söhnen zur Folge haben. Mit Bolsonaro an der Spitze bleibt Brasilien ebenso vielversprechend wie unberechenbar.