LEITARTIKEL

Brot und Aktienspiele

Rette sich, wer kann, heißt die Devise am chinesischen Aktienmarkt. Binnen weniger Wochen ist die imposanteste Hausse in der weltweiten Börsenhistorie in ein dramatisches Crashszenario übergewechselt. Die führenden Indizes haben seit Junimitte über...

Brot und Aktienspiele

Rette sich, wer kann, heißt die Devise am chinesischen Aktienmarkt. Binnen weniger Wochen ist die imposanteste Hausse in der weltweiten Börsenhistorie in ein dramatisches Crashszenario übergewechselt. Die führenden Indizes haben seit Junimitte über 30 % eingebüßt, die daran gekoppelte Wertvernichtung erreicht ungefähr 4 Bill. Dollar. Es ist ein Schlag ins Kontor des kleinen Mannes, denn an Chinas Börsen werden in krassem Gegensatz zu den westlichen Märkten mehr als 80 % der Marktkapitalisierung von kleinen Privatanlegern gestiftet. Diese haben in einem beispiellosen Spekulationsrausch seit Herbst vergangenen Jahres ihr Glück in einem Markt versucht, der trotz mauer Konjunkturperspektiven und schwacher Unternehmensgewinne monatelang nur den Weg nach oben kannte und nun keinen Boden mehr findet.Auf dem Weg dahin sind zig Millionen Chinesen, die zuvor noch keinerlei Berührung mit Dividendentiteln hatten, zu Aktienzockern mutiert. Quer über alle sozialen Schichten hinweg wurde die Börse als fröhlicher Spielplatz verstanden, der mehr Einkommen als der eigentliche Broterwerb verspricht. Dabei vertraute man darauf, dass die chinesische Regierung Mittel und Wege findet, das Platzen einer Spekulationsblase und deren Konsequenzen irgendwie zu verhindern. Der chinesische Aktienmarkt ist nämlich passend zu einer noch immer überwiegend staatlich gelenkten Wirtschaft sehr wenig von konjunkturellen Entwicklungen und Unternehmensergebnissen und sehr viel von politischen Signalen bestimmt. Nun ist man um eine Illusion und sehr viel Marktkapital ärmer.In den letzten Tagen hat Peking versucht, mit der Mobilisierung von staatlichen Pensionsfonds, Versicherungen und Brokerhäusern für Stützungskäufe, monetären Lockerungsmaßnahmen der Zentralbank, der Begrenzung von Leerverkäufen via Index-Futures, der Handelsaussetzung von zahlreichen Aktien und weiteren Maßnahmen die panische Flucht der Anleger aus dem Aktienmarkt zu verhindern, und dabei dennoch wenig erreicht. Nun macht sich in der Staatsführung einige Verzweiflung breit, denn man befindet sich in einem Catch-22-Szenario. Hätte man gar nicht eingegriffen und die Märkte wären ins Bodenlose gestürzt, hätte dies unkalkulierbare Wutreaktionen in der breiten Bevölkerung auslösen können. Andererseits hat die Bereitschaft Pekings, den Markt zu stützen, aber es nicht wirklich zu können, erst recht das Bewusstsein der Anleger dafür geschärft, dass sie sich in einer hoffnungslosen Situation befinden. Nun versuchen sie erst recht, wenn noch irgendwie möglich aus dem Markt auszusteigen.In gewisser Weise bekommt Peking die Rechnung dafür präsentiert, dass man es versäumt hat, mit politischen Signalen und gezielteren Maßnahmen zur Eindämmung von Wertpapierkrediten den irrationalen Überschwang im chinesischen Aktienmarkt in einem frühen Stadium gezielt abzubremsen. Man sah aber wohl gute Gründe, die Dinge laufen und die Kurse steigen zu lassen. Zum einen galt die Aktienmarkthausse als eine Bestätigung dafür, dass Chinas neues, reformgeleitetes Wirtschaftsmodell mit niedrigeren Wachstumsraten, aber innovationsgetriebenen Perspektiven einen Quantensprung in Sachen Wertschöpfung verspricht. Zum anderen schien ein rascher Vermögenszuwachs in der breiten Bevölkerung geradezu ideal, um die Anpassungsschmerzen eines schwierigen wirtschaftlichen Transformationsprozesses abzufedern. Abgesehen davon galt die Börsenhausse als probates Mittel, den überhöhten Verschuldungsgrad im Unternehmenssektor anzugehen und vor allem auch staatlichen Unternehmen neue Eigenmittel durch das Anzapfen privaten Kapitals zu ermöglichen.Nun wird ein Strich durch viele Rechnungen gemacht, und es ist für den Staat wie auch das Volk so etwas wie der berühmte “reality check” angesagt: Chinas zäher wirtschaftlicher Restrukturierungskurs wird zwar nicht wunschgemäß von einer fortwährenden Aktienhausse weicher gebettet. Gleichwohl sollte man aus einer harten, aber zwangsläufigen Börsenkorrektur nicht gleich das Einsetzen einer systemischen Krise oder einer harten Konjunkturlandung schlussfolgern. Chinas Finanzsystem wird noch immer von staatlichen Banken dominiert, die selbst weder Börsenhandel noch Aktienkundengeschäft betreiben. Hier droht keine Verlustwelle. Und Chinas Aktienboom hat bislang so wenig positiv auf die Realwirtschaft abgefärbt, dass auch sein jähes Ende die Konjunktur nicht entscheidend beeinträchtigen sollte.——–Von Norbert HellmannChinas Börsenkorrektur nimmt dramatische Formen an. Die Regierung ist in eine Zwickmühle geraten, da sie es verpasst hat, rechtzeitig auf die Blase einzuwirken.——-