Andreas Bruckner

„Das Goldilocks-Szenario endet nun“

Die Bank of America erwartet dieses Jahr sinkende Kurse an Europas Aktienmärkten. Ihr Stratege Andreas Bruckner begründet das mit einer nachlassenden wirtschaftlichen Dynamik und steigenden Realzinsen.

„Das Goldilocks-Szenario endet nun“

Christopher Kalbhenn.

Herr Bruckner, Ihr Haus erwartet ein schwaches Jahr für die europäischen Aktienmärkte mit einem Rückgang des derzeit bei 456 ­liegenden Stoxx Europe 600 auf 430 Punkte zum Jahresschluss. Warum sind Sie, anders als die Mehrheit, so skeptisch?

Zum einen aufgrund der Beobachtung, dass die im Jahr 2020 gestartete Rally von der starken wirtschaftlichen Erholung getragen wurde. In dieser Hinsicht sind für uns die Einkaufsmanagerindizes als frühzeitig veröffentlichte Indikatoren ausschlaggebend. Nach dem Reopening-Hoch vom dritten Quartal 2021 haben die Einkaufsmanagerindizes in der Eurozone nach unten abgedreht. Die Auftragskomponente als die am weitesten in die Zukunft schauende Indikation, die im dritten Quartal ein 20-Jahres-Hoch von 60 erreichte, steht im Februar bei 56 Punkten. Im Januar waren es sogar 53, aber das Überwinden der Omikron-Welle und der dazugehörigen Einschränkungen hat zu einer kleinen Sonderkonjunktur geführt. Das BIP-Wachstum des Euroraums betrug im dritten Quartal annualisiert 9%. Im vierten Quartal ist es auf 1,2% gefallen, und, da die zyklischen Faktoren wegfallen, insbesondere das Reopening und die fiskalische Unterstützung wieder rausgenommen werden, schätzen wir, dass das Wachstum über den Jahresverlauf auf das Trendniveau von 0,8% bis 1% sinken und dort bleiben wird. Das entspräche einem Einkaufsmanagerindex von 52.

Der Konsens geht davon aus, dass wir ein für Unternehmensgewinne und somit für Aktien positives Umfeld haben. Liegt er also falsch?

Der Markt sieht, dass wir wahrscheinlich über die nächsten Quartale ein über Trend liegendes Wachstum haben werden, das für Aktien positiv wäre. Nach unserer Einschätzung ist aber entscheidend, dass das Wirtschaftswachstum begonnen hat sich abzuschwächen, so wie es die Einkaufsmanagerindizes anzeigen. Die Änderungsrate im Wachstum, sprich die wirtschaftliche Dynamik, ist der wichtigere Treiber für den Aktienmarkt und schwächt sich eben ab. Ohne die Unterstützung dieses elementaren Markttreibers wird es unserer Meinung nach keine positive Rendite geben.

Was stimmt Sie noch skeptisch?

Entscheidend ist auch die Zinsentwicklung. Wir hatten während der Rally einen stetig fallenden Realzins und damit einen niedrigeren Diskontierungsfaktor. Auch das hat gedreht, seit dem falkenhaften Kommentar des Fed-Chairman Jerome Powell Anfang 2022. Der Markt hat seither begonnen einen echten Zinsanhebungszyklus der Fed einzupreisen. Innerhalb von nur sechs Wochen hat sich die Zahl der für dieses Jahr vom Markt eingepreisten Zinserhöhungen von vier auf sieben erhöht. Das hat dazu geführt, dass die Bewertungen gesunken sind. Vorher hatten wir an den Aktienmärkten ein Umfeld, das durch starkes Wachstum und als zusätzliche Stütze fallende Realzinsen gekennzeichnet war. Das Gol­dilocks-Szenario endet nun. Die Einkaufsmanagerindizes haben im vierten Quartal gedreht, die Realzinsen Anfang 2022.

Und das ist mit dem schwachen Jahresstart noch nicht eskomptiert?

Die Treiber hinter der 70-%-Rally seit März 2020 sind von stützenden zu Negativfaktoren geworden. Der Aktienmarkt muss einen Teil dessen, was er von diesen Treibern erhalten hat, wieder hergeben, wenn sich beide normalisieren. Unseren Modellen nach müssen rund 25% der Gewinne seit März 2020 wieder abgegeben werden. Unsere makroökonomischen Annahmen implizieren unser Stoxx-Europe-600-Indexziel von 430 Zählern. Zwischendurch könnten Störfaktoren wie die Ukraine-Krise die Märkte stärker beeinflussen, aber die Grundtendenz bleibt erhalten.

Wie könnte es denn 2023 beziehungsweise nach Erreichung des Indexziels weitergehen?

Das Jahr 2023 ist noch zu weit weg, um einigermaßen valide Annahmen zu machen. Es gibt eine Reihe von Herausforderungen beziehungsweise Unsicherheitsfaktoren. Dazu zählt die Frage: Wie stark müssen die Zentralbanken auf die Bremse treten, um der Inflation Herr zu werden, und das im Wissen, dass der aktuelle Zyklus extrem kurz sein wird? Der Zyklus ist bereits weit fortgeschritten, zum Beispiel im Hinblick auf die sehr niedrigen freien Kapazitäten. In den USA sind sie sogar schon aufgebraucht. Ein Risiko geht von der Realzinsseite aus, je nachdem, wie stark die Fed noch zulegen muss. Dieses Jahr erwarten wir sieben Leitzinserhöhungen. Das preist der Markt bereits ein. Für 2023 gehen unsere Ökonomen von vier weiteren Anhebungen aus. Je mehr Zinserhöhungen der Fed der Markt noch einpreisen muss, desto mehr Aufwärtsdruck bei den Realzinsen und desto mehr Abwärtsdruck auf die Aktienbewertungen werden wir sehen. Nachdem die Realzinsen in diesem Jahr um 50 Basispunkte gestiegen sind, gehen wir bis Jahresende von einem Anstieg um weitere 50 Basispunkte aus. Alles, was darüber hinausgeht, wird im Stoxx Europe 600 für zusätzlichen Abwärtsdruck über 430 Punkte hinaus sorgen. Auch auf der Einkaufsmanagerindexseite gibt es Abwärtsrisiken, die zu Wachstum unter Trend führen könnten, vor allem die hohen Energiepreise. Es droht ein Preisschock für Konsumenten und Produzenten. Wir können uns daher vorstellen, dass das Wachstum eventuell nicht nur auf den Trend sinken, sondern ein oder zwei Quartale auch unter dem Trend liegen wird.

Müssen die Analysten angesichts des von Ihnen beschriebenen Umfelds nicht auch noch ihre Prognosen für die Ergebnisse je Aktie reduzieren? Sie sind ja noch ziemlich hoch.

Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse ha­ben schon abgewertet. Nach einem Hoch von 18 im Jahr 2020 liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis nun bei 14,5. Was noch fehlt, sind in der Tat die Gewinnschätzungen. Die Erwartungen für die gleitenden Gewinne je Aktie der kommenden zwölf Monate befinden sich auf einem Allzeithoch. Wir glauben, dass sie runterkommen werden. Wir haben ein Abschwungsszenario und zudem Margendruck durch Input-Inflation. Der sich anbahnende Rückgang der Gewinnschätzungen für die nächsten zwölf Monate bedeutet, dass ein weiterer Treiber der Rally wegfallen wird.

Das Interview führte

BZ+
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