JSA24Im Interview: Stéphane Boujnah

„Der Mangel an Kapital ist unser großer Schwachpunkt“

Euronext-CEO Stéphane Boujnah setzt auf Basisinitiativen, um mehr Eigenkapital in Europa zu mobilisieren, zum Beispiel durch einen einheitlichen IPO-Prospekt, der für alle sieben Euronext-Börsen kommen soll. Die Deutsche Börse sei „herzlich willkommen", mitzumachen.

„Der Mangel an Kapital ist unser großer Schwachpunkt“

IM INTERVIEW: STÉPHANE BOUJNAH

„Der Mangel an Kapital ist unser großer Schwachpunkt“

Euronext-CEO Stéphane Boujnah setzt auf Basisinitiativen, um mehr Eigenkapital in Europa zu mobilisieren, zum Beispiel durch einen einheitlichen IPO-Prospekt, der für alle sieben Euronext-Börsen kommen soll. Die Deutsche Börse sei „herzlich willkommen", mitzumachen. Boujnah sieht eine nie da gewesene Zahl an jungen Unternehmen, "die reif sind für die Börse“ und rechnet daher 2025 mit einem „sehr viel dynamischeren Jahr als 2024“. Von einer neuen IPO-Plattform hält er nichts, befürwortet aber eine weitere Konsolidierung unter Marktbetreibern.

Herr Boujnah, nach der Wiederwahl von Donald Trump steht Europa von großen Herausforderungen. Kapitalmarktteilnehmer gehen davon aus, dass eine auf die Stärkung der US-Wirtschaft ausgerichtete Politik vermehrt Kapital auch an die US-Börsen lenken wird, so dass sich auch Unternehmen selbst dorthin bewegen. Wie kann ein europäischer Börsenbetreiber sich dagegen stemmen?

Die Wahl von Donald Trump war ein Weckruf für Europa. Wir bewegen uns künftig in einem Umfeld, in dem die USA sich vom Multilateralismus abwenden und hemmungslos Entscheidungen mit Blick auf den eigenen Vorteil treffen. Es geht um Steuererleichterungen und Deregulierung für US-Unternehmen und gleichzeitig um Handelsschranken für andere. Das heißt, sie spielen nicht länger nach den Regeln der WTO.

Das heißt, Europa sollte es auch nicht tun?

Europa wirkt gerade wie ein Kontinent von Pflanzenfressern, der von Fleischfressern umgeben ist. Es sollte klar sein, dass die Europäer nicht die letzten auf der Welt sein können, die noch nach den Regeln spielen. Das allerwichtigste für Europa ist jetzt nicht nur, dass wir die Regeln ändern, sondern vor allem unsere Entscheidungsgeschwindigkeit. Wir müssen die Integration beschleunigen und mehr Europäische Champions produzieren, sonst verharren wir in einer Position der Schwäche.

Wir glauben, dass Wettbewerb und offene Märkte der beste Weg zum Wohl für alle ist. Die Realität ist, dass glückliche wohlsituierte Konsumenten kein Zivilisationsprojekt sind.

Wo sollten solche Champions entstehen?

Die Notwendigkeit für Konsolidierung ist offensichtlich in der Verteidigungsindustrie und dringend in der Finanzindustrie. Die Marktkapitalisierung der größten französischen Bank BNP Paribas beträgt 70 Mrd. Euro, rund ein Zehntel des Börsenwerts von J.P. Morgan, der größten US-Bank. Die Deutsche Bank bringt nur 5% des US-Rivalen auf die Waage. Das gleiche Bild zeigt sich bei den Assetmanagern. Wenn Europa in der Welt relevant bleiben will, brauchen wir größere Player.

Die EU hat sich bisher stark für freie Märkte und einen funktionierenden Wettbewerb eingesetzt, verträgt sich das mit dem Konzept von Champions?

Wir haben einen fragmentierten Finanzmarkt mit starkem Wettbewerb und niedrigen Gewinnmargen, dem ein integrierter amerikanischer Markt mit großen Playern und fetten Margen gegenübersteht. Sie nutzen ihre Chancen, Produkte und Services zu Hause zu entwickeln, mit denen sie dann in Europa antreten. Wir glauben, dass Wettbewerb und offene Märkte der beste Weg zum Wohl für alle ist. Die Realität ist, dass glückliche wohlsituierte Konsumenten kein Zivilisationsprojekt sind. Wir steuern auf eine Gesellschaft von Konsumenten zu, die billige Dinge kaufen, die andernorts produziert worden sind, so dass diese Konsumenten am Ende selber keinen Job mehr haben werden. Wir brauchen eine ausgewogene Struktur mit Produzenten und Käufern, möglichst in allen Industrien.

Börsen haben die Aufgabe, Kapital für die Produktion zu mobilisieren. Das neue Jahr steht vor der Tür. Welches IPO-Volumen erwarten Sie 2025?

Wir haben eine vielversprechende Pipeline. Ich bin zuversichtlich, dass es ein sehr viel dynamischeres Jahr als 2024 werden wird. Unternehmen werden versuchen, Geld in einer sehr viel aggressiveren Weise einzusammeln als in den letzten Monaten. Es gibt eine Menge Unsicherheiten, aber ich bin dennoch zuversichtlich, wenn ich mir die Pipeline anschaue.

Wie viele IPOs stehen denn an?

Wir nennen keine Zahlen und keine Namen, denn eine Pipeline ist flexibel. Es kommen Unternehmen dazu, andere fallen raus, manchmal kommt es zu Verzögerungen.

Die AFME weist allerdings darauf hin, dass es in Europa an der Finanzierung klemmt, also am Zugang zu Eigen- und zu  Fremdkapital. Mit der nochmals steigenden Gravitationskraft der USA, was ist zu tun, um hier das Blatt zu wenden?

Der Mangel an Kapital ist insgesamt unser großer Schwachpunkt. Warum ist das so? Das Gros des Kapitals muss in den privaten Haushalten mobilisiert werden. Und da sehen wir einen historischen Unterschied: in den USA repräsentieren die privaten Haushalte 30% des Aktienmarktes, in Europa liegt der Durchschnitt bei 3%.

Alle europäischen Länder haben Programme aufgelegt, um neue Technologien zu fördern. Im Ergebnis haben wir eine nie da gewesene Zahl an jungen Unternehmen, die reif sind für die Börse.

Was ist der Grund dafür?

Die USA hat nicht die sozialen Absicherungssysteme, die wir in Europa haben. Um den Ruhestand zu finanzieren, führt für den einzelnen kein Weg an Aktien vorbei. In Europa verlassen sich alle darauf, dass die nachfolgende Generation weiter in die Sozialsysteme einzahlt. Die Einführung einer kapitalgedeckten Altersvorsorge, die die Ersparnisse der Haushalte an die Kapitalmärkte lenken würde, steht oft im Konflikt mit der gleichzeitig laufenden Rentenfinanzierung. Um Kapital zu mobilisieren, ist eine durchgreifende Reform der Alterssicherung nötig – auf nationaler Ebene. Leider sind gerade vielversprechende Pläne in Deutschland aufgrund des Zerbrechens der Koalition gestoppt und wir sind sechs Monate zurückgeworfen.

Eine solche Reform braucht länger, um Wirkung zu zeigen. Gibt es auch kurzfristig wirksame Schritte, um Aktienkapital, also Risikokapital zu mobilisieren?

Eine neue Risikoperspektive ist wichtig. In der Finanzkrise zwischen 2008 und 2012 wurden große Risiken in den Bankbilanzen offenbart, die Steuerzahler mussten einspringen, um reihenweise Finanzinstitute zu retten. Infolgedessen wurde die Regulierung verschärft, durch Basel und das Solvency-Regime. Heute, 15 Jahre später, haben wir aber eine andere Situation. Wir haben nicht zu viel, sondern zu wenig Risiko in den Büchern, denn Banken und Versicherer haben hohe Hürden für die Kapitalanlage.

Krankt denn daran der IPO-Markt, der 2024 in Europa reichlich schwach war?

Die Triebfeder für jeden IPO-Markt ist erstens Liquidität, zweitens Liquidität und drittens Liquidität. Dafür braucht es langfristig verfügbares Kapital, wie es eben in den USA für die private Altersvorsorge aufgewendet wird. Da ist nichts Magisches dabei. Alle europäischen Länder haben Programme aufgelegt, um neue Technologien zu fördern. Im Ergebnis haben wir eine nie da gewesene Zahl an jungen Unternehmen, die reif sind für die Börse.

Warum haben wir dann so wenig IPOs?

Zum einen haben die Unternehmen eine Alternative: Private Equity. Es steht ebenfalls bereit, um Wachstum zu finanzieren. Und außerdem, wie ich sagte, ist die Kapitalnachfrage nicht immer hoch genug, um einen Börsengang reizvoll zu machen.

Wir haben zum Beispiel bei Euronext beschlossen, einen einzigen Prospekt für IPOs zu schaffen, das, was die USA S1-Form nennen.

Haben Sie das Gefühl, dass das den Akteuren in Europa die Probleme bewusst sind?

Ja, ich glaube schon. Wir können nicht Pflanzenfresser bleiben und die Fleischfresser willkommen heißen und ihnen anbieten, mit uns das Gras und das Wasser zu teilen, damit sie uns dann eröffnen, dass sie andere Pläne haben. Vielleicht sollten wir aber mehr von der Basis ausgehende Initiativen ergreifen anstatt auf die Regeln von oben zu warten, um die Dinge zu verändern. Wir müssen konkrete Dinge aufbauen. Wir haben zum Beispiel bei Euronext beschlossen, einen einzigen Prospekt für IPOs zu schaffen, das, was die USA S1-Form nennen. Anstatt dafür Lobbyarbeit oben zu betreiben, haben wir entschieden, ihn bei den sieben Börsen der Euronext-Gruppe mit ihren sieben Aufsehern einzuführen. Wir werden also bald einen einheitlichen Prospekt in englischer Sprache haben, eine einzige Zusammenfassung in einer standardisierten Form, zumindest in unseren sieben Ländern.

Haben Sie darüber mit Deutschland gesprochen?

Wenn andere Länder mitmachen wollen, sind sie herzlich willkommen. Aber ich will erstmal etwas haben, das in unseren sieben Märkten funktioniert. Dann will ich zu den anderen großen Märkten gehen, Deutschland und Spanien, und sie fragen, ob sie dabei sein wollen. Solche Initiativen müssen wir in Zukunft viel öfter vorantreiben. Euronext hat als Plattform eine führende Position, also eine gute Ausgangslage.

Inwiefern?

Ein Viertel aller Aktien in Europa wird auf der Euronext-Plattform gehandelt: ein Orderbuch, ein Liquiditätspool. An der Euronext werden täglich 10 bis 12 Mrd. Euro in Aktien gehandelt, doppelt so viel wie in London. Die kumulierte Marktkapitalisierung liegt bei rund 7 Bill. Euro, ebenfalls doppelt so viel wie in London. Wir kümmern uns um Aktienkapital und wir bekommen mehr internationale Listings als alle anderen Börsenbetreiber in Europa, sogar CVC, die in London sitzen, haben sich für Euronext entschieden. Für die anderen Börsen spielt der Aktienhandel häufig eine geringere Rolle.

Woran machen Sie das genau fest?

Bei der Deutschen Börse liegt der Umsatzanteil des Aktienhandels zum Beispiel bei rund 5%, meine ich, bei uns sind es 15%. Insgesamt, also inklusive Fixed Income, Währungen, Rohstoffe und Strom liegt der Handelsanteil bei 35%. Was ich außerdem hervorheben möchte: Die Post-IPO-Performance an der Euronext ist signifikant besser als die an der Nasdaq oder auch an der Nyse.

Wissen die Unternehmen in Europa das nicht, wenn sie in den USA an die Börse gehen?

Wir haben eigentlich keinen Exodus an börsenreifen Unternehmen aus Europa in die USA, ausgenommen zwei Sektoren, Pharma und Biotech. Diese haben bereits vor dem Börsengang in den USA bessere Finanzierungsmöglichkeiten. Aber für viele andere wiegen auch die Nachteile dort schwer: ein Listing in den USA ist aufgrund der strengen Regulierung mit erheblich höherem Bürokratieaufwand und dauerhaft höheren Kosten verbunden. Die Bewertungen sind generell höhere, aber dieser Ausgleich funktioniert nur, solange es Unternehmen gelingt, in den USA sichtbar zu sein. Vielen gelingt das eben nicht.

Wir schielen weniger auf die USA, wir wollen die europäische Plattform sein, die London ersetzt.

Wie können Sie die Vorteile in Europa, an der Euronext sichtbarer machen?

Das ist schon gelungen. Viele europäische Unternehmen, die an die Börse wollen, entscheiden sich heute für die Euronext. Vor zehn Jahren wären sie nach London gegangen. Wir schielen weniger auf die USA, wir wollen die europäische Plattform sein, die London ersetzt. Als ich CEO wurde, operierte die Euronext mehr oder weniger wie im Jahr 2000. Seit 2017 haben wir die europäische Börsenlandschaft konsolidiert, wir haben die Irish Stock Exchange übernommen, die Börse Oslo, VP Securities in Kopenhagen, nicht zuletzt die Borsa Italiana. Heute haben wir einen integrierten Markt in sieben Ländern.

Dennoch hat sich Vivendi entschieden, Canal+ nach der Aufspaltung in London an die Börse zu bringen. Wurmt Sie das?

Zur Vivendi-Gruppe gehören mehrere Unternehmen. Zwei davon bleiben an der Börse von Paris, die Holding und Louis Hachette, zwei Einheiten sind in Amsterdam gelistet, Havas und Universal Music Group. Nur eine einzige Tochter hat sich für London entschieden. Das hat nichts mit Liquidität zu tun, sondern mit mehr Flexibilität für künftige Konsolidierungspläne.

Wo wir von Konsolidierung sprechen: Glauben Sie, dass diese auch bei den Börsenbetreibern weitergehen sollte?

Vielleicht. Ich spreche die ganze Zeit mit Partnern. Ich habe großen Respekt für Theodor Weimer. Er ist eine beeindruckende Führungspersönlichkeit in unserer Branche, sehr geradeaus, ehrlich, offen und pragmatisch. Die Deutsche Börse kann sich sehr glücklich schätzen, ihn als Chef gehabt zu haben. In der Branche wird man ihn vermissen.

Haben Sie mit ihm je über eine Annäherung von Euronext und Deutsche Börse gesprochen?

Wir haben von Zeit zu Zeit darüber gesprochen, was wir zusammen bewegen könnten.

Zum Beispiel eine gemeinsame IPO-Plattform, von der 2023 die Rede war?

Das war seine Idee. Ich kann nicht für ihn sprechen, aber meiner Ansicht sind Aktien im Vergleich zu anderen Assetklassen mit der Zeit weniger wichtig für die Strategie der Deutschen Börse geworden. Aus zwei Gründen: Zum einen sind Aktien historisch gesehen nicht die Hauptfinanzierungsquelle von Unternehmen in Deutschland oder zumindest nicht so wichtig wie in anderen europäischen Ländern. Zum anderen basiert der Erfolg der Deutschen Börse auf Non-Equity-Produkten.

Warum dann die Idee einer gemeinsamen IPO-Plattform?

Ich glaube, dass bestimmte Interessengruppen in Deutschland und anderen europäischen Ländern finden, es müsse mehr für die Finanzierung von Tech-Unternehmen in Deutschland getan werden. Vor diesem Hintergrund ist er zu mir gekommen. Aber ich habe ihm gesagt, dass wir nicht von Grund auf etwas neu aufbauen werden, denn das wäre total künstlich. Es fehlt die Liquidität. Die Situation ist vergleichbar mit dem Bau eines Regionalflughafens, den keine Airline anfliegt. Sie bauen eine schöne, europäische Börse für Technologie-Unternehmen und dann kommt niemand, weil keine Investoren da sein.

Sind Technologie-Unternehmen für Sie nicht interessant?

Wir bei Euronext haben schon ein Technologie-Franchise, die Initiative Tech-Leaders und wir tun viel dafür, Tech-Unternehmen anzulocken. Mit Erfolg. Deshalb habe ich Weimer gefragt, was wir zusammen machen können, ohne etwas Neues zu kreiieren. Es gibt viele Ideen.

Gab es nie Versuche, zusammen zu kommen?

In der Vergangenheit haben wir nie einen Weg gefunden, zusammen zu kommen. Denn Deutsche Börse hat eine deutlich größere Marktkapitalisierung als die Euronext. Beim Aktienhandel ist es genau umgekehrt, da sind wir viel stärker als die Börse in Frankfurt.

Sie könnten jetzt mit dem Nachfolger von Theodor Weimer erneut über eine Zusammenarbeit sprechen?

Da müssten Sie ihn ansprechen. Ich weiß nicht, was er denkt und was er während seines Mandats erreichen will.

Euronext umfasst jetzt sieben Börsen. Der neue Strategieplan legt den Fokus auf organisches Wachstum. Schließen Sie die Akquisition einer weiteren Börse aus?

Der Hauptgrund, dass ich mich auf das organische Wachstum konzentrieren will, ist, dass wir keine sofort umsetzbare M&A-Transaktion haben. Dafür braucht es nicht nur einen willigen Käufer, sondern auch einen willigen Verkäufer. Ich könnte Sie jetzt mit allen möglichen Konsolidierungsprojekten unterhalten, aber wenn es keinen willigen Verkäufer gibt, gibt es keinen Deal.

Aber sind Sie gerüstet?

Wir haben jetzt eine operative Marge vor Abschreibungen (Ebitda) von 60% und sind die profitabelste Börse in Europa. Das Unternehmen hat ein Ebitda von 1 Mrd. Euro und wandelt dieses in Bargeld mit einer Quote von 75% bis 78% um. Wir haben eine Nettoverschuldung in Höhe des 1,5fachen des bereinigten Ebitda, das ist ziemlich niedrig. Wir haben 2 Mrd. Euro auf der Kante und die Möglichkeit, Geld aufzunehmen.

Damit könnte sich Euronext also durchaus weitere Übernahmen leisten!?

Wir haben die Mittel, Akquisitionen durchzuführen. Aber wir wollen kein Geld für Deals ausgeben, die keinen Sinn machen. Es gäbe andere Börsen in Europa, die wir kaufen könnten. Aber sie stehen nicht zum Verkauf. Wir beobachten natürlich weiter, wie sich die Situation entwickelt.

Bei ihrer letzten großen Akquisition, der Mailänder Börse, gab es in Italien auch Unmut, von Euronext ausgehungert zu werden. Deshalb kam es im Sommer sogar zu einem Streik. Wie ist derzeit die Lage?

Ja, wir hatten einen Streik. Er wurde friedlich beigelegt. In einigen Ländern wird schnell mal gestreikt, in anderen nicht. In Italien und Frankreich streiken die Leute schon mal. In Wirklichkeit gab es ein paar der üblichen Gewerkschafts-Forderungen.

Und was ist dran an den Klagen, Euronext ziehe zentrale Positionen von der Borsa Italiana ab?

Wir haben seit der Übernahme nicht nur doppelt so viele Synergien erzielt wie ursprünglich geplant, sondern es gibt an der Borsa Italiana auch 18% mehr Arbeitsplätze als vorher. Wir haben das Datenzentrum von Euronext von London nach Bergamo verlegt, wir haben alle Clearing-Aktivitäten in Rom internalisiert.

Zurück zum organischen Wachstum: Was sind für Sie die wichtigsten Treiber?

Wir wollen versuchen, unser CSD-Geschäft auszubauen. Wir haben jetzt das drittgrößte CSD-Netzwerk in Europa nach Euroclear und Clearstream. Wie üben schon eine gute Zugkraft auf Emittenten aus, die von einigen Akteuren weggehen, um Kunden von uns zu werden. Der zweite Bereich, in dem wir wachsen wollen, ist das Clearing. Jetzt, wo wir eine brandneue Clearing-Plattform haben, wollen wir mit Repo Clearing beginnen. Wir wollen auch unser Derivate-Angebote entfalten.

Inwiefern?

Wir haben uns entschlossen, Strom-Derivate zu notieren und zu handeln. Wir haben ja schon eine starke Strombörse namens Nord Pool, ein Wettbewerber von Epex. Wir handeln bisher nur mit Cash-Produkten, wollen aber künftig auch wie Epex mit Strom-Derivate-Produkten handeln. Außerdem wollen wir unsere Unternehmensdienstleistungen ausbauen. Da sind wir bisher relativ klein, wollen aber deutlich wachsen. Unser Fixed Income-Geschäft läuft extrem gut. MTS ist jetzt vier Mal so groß wie 2021, als wir es gekauft haben. Im letzten Quartal hatte MTS ein Wachstum von 38%. Das ist ein Geschäft, in dem wir das organische Wachstum beschleunigen können, unter anderem weil es von der Europäischen Kommission ausgesucht worden ist, den Sekundärhandel der Next Generation EU Eurobonds anzubieten.

Wie viel Wachstum streben Sie denn insgesamt an?

Wir sind zuversichtlich, dass wir mehr als 5% organisches Umsatzwachstum und mehr als 5% Ebitda-Wachstum liefern können. Wir versuchen, viel mehr zu erreichen, aber wir werden mindestens 5% liefern. Seit 2015 haben wir stets bescheidene Versprechen gemacht und immer bessere Ergebnisse als gesprochen geliefert. Ich will, dass das auch in Zukunft so bleibt. Einige Wettbewerber machen es andersherum, aber wir können uns keine Gewinnwarnung leisten.

Im Vergleich zu den USA, die das Settlement auf T+1 umgestellt haben, peilt Europa das erst für Oktober 2027 an. Das ist eine enorme Diskrepanz.

Wir sind vorbereitet. Wir haben unser CSD-Business entwickelt. Aus meiner Sicht ist die Umstellung keine große Revolution.

Das Interview führten Gesche Wüpper und Heidi Rohde.


Hier finden Sie alle Artikel der Jahresschlussausgabe 2024.