Deutsche Wirtschaft

Deutschland in Abstiegs­gefahr

Die Entwicklung der wichtigsten makroökonomischen Indikatoren zeigt an, dass sich die deutsche Wirtschaft schon seit einiger Zeit auf einem eher absteigenden Ast befindet.

Deutschland in Abstiegs­gefahr

Hansi Flick hat als Bundestrainer geschafft, was keinem seiner Vorgänger gelang: die ersten sieben Spiele, in denen er die Verantwortung für die deutsche Nationalmannschaft trägt, zu gewinnen. Als Titelaspirant gilt Deutschland als Tabellenelfter der aktuellen Fifa-Weltrangliste dennoch nicht, zumindest noch nicht. In der Rangliste der wichtigsten und größten Wirtschaftsnationen liegt Deutschland seit vielen Jahren stabil auf Platz 4. In der Eurozone gibt Deutschland bezogen auf die wirtschaftliche Dominanz klar den Ton an: Am realen Bruttoinlandsprodukt der 19 Euro-Länder haben wir einen Anteil von fast 30%. Wirtschaftlich geht somit kein Weg an uns vorbei. Oder?

Bei genauem Hinschauen erkennt man allerdings einige Kratzer am schönen Lack. Während die deutsche Wirtschaft im Pandemiejahr 2020 besser als andere durch die wirtschaftliche Krise gekommen ist, hat sich 2021 Ernüchterung eingestellt. Der zweite Corona-Lockdown traf Deutschland mit voller Wucht und stärker als andere Länder. Während das reale BIP in Deutschland im ersten Quartal 2021 um 1,9% gegenüber dem Vorquartal zurückging, kam es in der gesamten Eurozone nur zu einem kleinen Minus von 0,3%. Und auch in den durch Auf- und Nachholeffekte geprägten Folgequartalen schnitt die deutsche Wirtschaft schlechter ab als der Durchschnitt der Eurozone. Statt Wachstumsmotor ist Deutschland Wachstumshemmschuh der Eurozone.

Warum tut sich die deutsche Wirtschaft so schwer damit, sich von der Wirtschaftskrise des letzten Jahres zu erholen? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Lieferkettenprobleme und fehlende Vorleistungsgüter machen Deutschland mit seiner starken industriellen Basis überdurchschnittlich stark zu schaffen. Sobald diese Probleme in den Hintergrund treten, so die Erwartung, wird die deutsche Wirtschaft an ihre alten Tugenden und Stärken anknüpfen. Platzt der Knoten bei den Lieferketten, sollte ein starker Nachholeffekt bei der Industrieproduktion einsetzen, so dass Deutschland im nächsten Jahr mit gut 4% ein etwas stärkeres Wachstum erzielen könnte als der Durchschnitt der Eurozone oder auch die USA.

Also Ende gut, alles gut? Leider nein. Denn wenn man sich die Entwicklung der wichtigsten makroökonomischen Indikatoren anschaut, kommt man zu dem Ergebnis, dass sich die deutsche Wirtschaft schon seit einiger Zeit auf einem eher absteigenden Ast befindet. So haben wir uns angeschaut, wie sich die reale Wirtschaftsleistung in den Ländern der Eurozone mit und ohne Deutsch-land entwickelt hat. Unser Datensatz reicht bis in das Jahr 1996 zurück, und es zeigt sich, dass die Wirtschaft in den heutigen 18 Ländern der Eurozone ohne Berücksichtigung Deutschlands bis zum Jahr 2005 jedes Jahr stärker gewachsen ist, als es unter Einbeziehung Deutschlands der Fall war. Erst die 2003 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder verabschiedete „Agenda 2010“ läutete mit den beschlossenen Reformen des deutschen Sozialsystems und des Arbeitsmarktes eine Trendwende zum Besseren ein. Im Zeitraum zwischen 2006 und 2014 wuchs die gesamte Eurozone einschließlich Deutschlands mit Ausnahme des Jahres 2009 wesentlich stärker, als es der Fall gewesen wäre, wenn man die deutsche Wirtschaft aus der Eurozone ausklammern würde.

Sand im Getriebe

Doch ab 2015 kam Sand ins deutsche Getriebe. 2015, 2018 und 2019 wuchs die deutsche Wirtschaft nur noch unterdurchschnittlich im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn, 2016 und 2017 war kein wesentlicher Unterschied feststellbar. Im Pandemiejahr 2020 schlug sich Deutschland wesentlich besser als der Rest der Eurozone, doch dieser Vorteil kehrt sich schon in diesem Jahr wieder um. Aber woher rührt diese Schwäche? Dies hat viel mit zwei eigentlichen Paradedisziplinen der deutschen Wirtschaft zu tun: der Industrieproduktion und den Exporten. Die deutsche Industrieproduktion liegt beispielsweise derzeit um fast 3% unter dem Niveau von Januar 2015. Betreibt man Ursachenforschung, landet man natürlich bei den Themen Lieferkettenunterbrechungen, Halbleitermangel und fehlende Vorleistungsgüter. Allerdings leidet das deutsche verarbeitende Gewerbe deutlich stärker unter diesen Problemen als Industrieunternehmen in anderen europäischen Ländern. So ist die Produktion in Irland heute gegenüber Januar 2015 um fast 60% angestiegen, in Belgien um mehr als 30%, in Finnland um fast 20% und auch in Italien um mehr als 6%. Ähnlich stellt sich die Situation bei Betrachtung der Exporte dar.

Sucht man eine Erklärung für die unterdurchschnittliche Entwicklung dieser Kennzahlen in Deutschland, so scheint dies vor allem etwas mit der Entwicklung der deutschen Autoindustrie zu tun zu haben. Seit dem Beginn der 2000er Jahre wurden fast immer zwischen 450000 und 500000 Pkw pro Monat produziert. 2019 ging die Produktion auf monatlich knapp 400000 Fahrzeuge zurück, 2020 sank die Zahl auf 300000 Fahrzeuge, und in den vergangenen Monaten wurden sogar nur noch etwa 250000 Pkw hergestellt. Sobald sich die Situation bei den Halbleitern verbessert, dürfte sich die deutsche Autoproduktion erholen und damit der Industrieproduktion sowie der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einen Schub geben. Darauf deutet der rekordhohe Auftragsbestand hin, der mittlerweile eine Reichweite von fünfeinhalb Monaten aufweist.

Weniger wettbewerbsfähig

Dennoch ist zu befürchten, dass die deutsche Autoindustrie nicht nachhaltig zur alten Stärke zurückkehren wird. Nach unserem Eindruck haben die deutschen Autohersteller schon vor 2020 an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt, und auch die Coronakrise wurde nicht wirklich gut gemanagt. So fiel der Einbruch der deutschen Autoproduktion verglichen mit der Pkw-Herstellung in anderen Ländern sehr viel stärker aus. In Deutschland beträgt derzeit der Produktionsrückgang gegenüber Januar 2015 rund 40%, in den USA dagegen nur 30%, in Südkorea 25% und in China etwas mehr als 10%. Und das, obwohl die deutschen Hersteller sehr stark von staatlicher Hilfe profitieren: Der Absatz von Elektro- und Hybridfahrzeugen wird mit Kaufprämien unterstützt, gleichzeitig sinken die Lohnkosten aufgrund des vom Staat finanzierten Kurzarbeitergeldes. Ob die Transformation von Verbrenner- zu Elektroautos ein Erfolg wird, bleibt abzuwarten, nicht zuletzt auch deshalb, weil neue Anbieter in China und in den USA wie Pilze aus dem Boden schießen, was zu einem noch stärkeren Kampf um Marktanteile führen wird.

Die unterdurchschnittliche Entwicklung bei wichtigen volkswirtschaftlichen Kennzahlen be­schränkt sich zudem nicht allein auf die Industrieproduktion und die Exporte. Dies deutet darauf hin, dass wir mittlerweile ein ernsthaftes Wettbewerbsproblem haben. So sind die Lohnstückkosten in Deutschland in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Wirtschaftsreformen, die unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit hätten verbessern können, gab es dagegen keine.

Für den deutschen Aktienmarkt müssen diese zugegeben trüben Erkenntnisse nicht automatisch etwas Negatives bedeuten. Wer noch die Dax-Entwicklung in den 1990er Jahren vor Augen hat, weiß, dass deutsche Aktien auch bei schwierigen heimischen Wirtschaftsbedingungen eine ausgezeichnete Entwicklung aufweisen können, da die Unternehmen einen großen Anteil ihrer Umsätze und Gewinne im Ausland erzielen. Von daher sind wir optimistisch, dass der Dax im nächsten Jahr an seinen positiven Trend aus diesem Jahr anknüpfen und angesichts zu niedriger Erwartungen für die Unternehmensgewinne Kurs Richtung 18000 Punkte nehmen wird.

Zuletzt erschienen:

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Kognitive Fehler in der Kapitalanlage (204), Metzler Capital Markets

Schwellenländeranleihen vor herausforderndem Jahr (203), Vontobel

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