Die verschobene Gaskrise
Der Rückgang des Preises für Erdgas am europäischen Spotmarkt ist beeindruckend. Wurden für den Monatskontrakt an der Intercontinental Exchange (ICE) zur Lieferung am virtuellen niederländischen Übergabepunkt TTF Ende Juli auf dem Höhepunkt der Energiekrise mehr als 342 Euro je Megawattstunde bezahlt, so sind es aktuell nur noch rund 53 Euro. Damit ist praktisch wieder das Niveau erreicht, das es kurz vor dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs am Markt gegeben hatte. Dies ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Niveau vor dem Beginn der seit längerem zu beklagenden europäischen Energiekrise, denn über mehrere Jahre bis etwa Anfang 2021 waren Preisniveaus von 20 Euro und darunter üblich.
Für den starken Preisrückgang verantwortlich ist ein günstiges Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Zu nennen ist in erster Linie die sehr milde Witterung in diesem Winter in Europa, mit der hoher Gasverbrauch vermieden werden konnte. Nach Angaben der Bundesnetzagentur lag der deutsche Gasverbrauch in der dritten Kalenderwoche des Jahres um 9,4% unter dem durchschnittlichen Verbrauch der Jahre 2018 bis 2021. Und selbst wenn man den Temperatureffekt herausrechnet, ist der Verbrauch moderat. Nach Angaben der Agentur liegt der temperaturbereinigte Verbrauch um 19,5 % unter dem Referenzwert der Jahre 2018 bis 2021 – ein Ergebnis der schwachen Konjunktur, von kostenbedingten Energiesparbemühungen der Unternehmen sowie der Tatsache, dass sich viele Verbraucher kaum noch leisten können, adäquat zu heizen. Im Ergebnis sind daher die Gasspeicher gut gefüllt. In Deutschland beträgt der Füllstand derzeit 82,91 %, ein im Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2022 hoher Wert.
Der Preis für Erdgas ist auch nicht nur in Deutschland niedrig. So sind beispielsweise die Notierungen in den USA auf den niedrigsten Stand seit zwei Jahren gefallen. Dafür ist primär ein in Nordamerika ebenfalls milder Winter verantwortlich. Hinzu kommt, dass die Nachfrage in anderen Teilen der Welt, etwa in Asien, unter anderem wegen der derzeit noch gedrückten Konjunkturentwicklung moderat ist.
Während also Europa den Winter 2022/23 somit als abgehakt betrachten kann, denn ein Leerlaufen der Speicher und damit Rationierungen sind nicht mehr zu befürchten, sollte gleichwohl nicht davon ausgegangen werden, dass die europäische Energiekrise bereits bewältigt ist. Aufgrund der tiefgreifenden und aller Wahrscheinlichkeit nach auch langfristigen geopolitischen Verschiebungen in Europa ist Erdgas auch auf längere Sicht ein knappes Gut. Prekäre Mangellagen und erneut sehr hohe Preise können für die nächsten Winter keineswegs ausgeschlossen werden.
So ist damit zu rechnen, dass mit dem Ende der Lockdown-Maßnahmen in China der Gasverbrauch in Asien zulegen wird. Damit wird der globale Wettbewerb der Nachfrager nach per Tanker transportiertem verflüssigten Erdgas (LNG) an Intensität zunehmen – mit in der Folge steigenden Preisen. Da in Abwesenheit langfristiger Verträge LNG-Tanker dahin umgeleitet werden, wo die höchsten Preise zu realisieren sind, könnten sich im Jahresverlauf die Lieferungen von amerikanischem LNG, die nach dem Ende der russischen Lieferungen von Pipelinegas quasi die Lebenslinie Europas darstellen, deutlich verknappen.
Das in diesem Winter in Deutschland und Europa verbrauchte Erdgas stammt noch zu einem guten Teil aus den russischen Lieferungen per Pipeline. Im nächsten Winter steht dieses Gas nicht mehr zur Verfügung. Zwar lässt die Bundesregierung in Rekordzeit in Wilhelmshaven, Brunsbüttel, Stade und Lubmin LNG-Terminals bauen. Deren jährliche Gesamtkapazität wird allerdings nur auf 33 Mrd. Kubikmeter Erdgas geschätzt. Zum Vergleich: Allein durch die inzwischen gesprengten Nord-Stream-Pipelines wurden im Jahr 2021 rund 60 Mrd. Kubikmeter geliefert – und zwar zu deutlich niedrigeren Preisen als aktuell das LNG-Flüssiggas.
Ob es gelingt, die Speicher für den nächsten Winter komplett zu befüllen, steht noch in den Sternen. Und selbst wenn dies gelingen sollte, könnte ein harter Winter für die vorzeitige Entleerung sorgen. Insofern wird es im Herbst 2023 dieselben Sorgen geben wie vor dem aktuellen Winter – nur mit dem zusätzlichen Risiko hinsichtlich der Befüllung der Speicher.