ABSTURZ DER AKTIENMÄRKTE IN CHINA - IM INTERVIEW: STEFAN SCHEURER, ALLIANZ GLOBAL INVESTORS

"Eine Bodenbildung sehe ich aktuell noch nicht"

Analyst rät Anlegern zur Vorsicht - Festlandsmarkt immer noch höher bewertet als die Börse Hongkong

"Eine Bodenbildung sehe ich aktuell noch nicht"

An den chinesischen Märkten nehmen die Turbulenzen weiter zu, mittlerweile zeigen sich auch an den Rohstoffmärkten und an anderen Börsen Auswirkungen. Im Interview der Börsen-Zeitung erläutert Stefan Scheurer, Senior Capital Markets Analyst bei Allianz Global Investors, die Hintergründe der Misere.- Herr Scheurer, was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen für die Turbulenzen an den chinesischen Kapitalmärkten?Die Gründe für die Turbulenzen sind vielfältig. Von großer Bedeutung ist zweifellos die große Anzahl an Initial Public Offerings (IPO), die es an den Festlandsbörsen gegeben hat. Diese Neuemissionen, die im Rahmen der Liberalisierung des chinesischen Kapitalmarkts zu begrüßen sind, hatten die Wirkung, dass neues Kapital nicht direkt in den Markt investiert wurde, sondern in Richtung der IPOs umgeleitet wurde. Investmentfonds, die die hohen Performanceansprüche der Anleger erfüllen müssen, haben Mittel aus dem Markt genommen und Gewinne realisiert, um die Mittel in die Neuemissionen zu investieren. Dies hat dem Markt effektiv Kapital entzogen. Das hat dann die Regierung dazu bewogen, jetzt keine IPOs mehr zuzulassen, um dem Liquiditätsentzug entgegenzuwirken.- Haben die Bewertungen auch eine Rolle gespielt?Wir haben zuletzt sehr hohe Bewertungen gesehen, was einen weiteren wichtigen Grund für die Turbulenzen darstellt. Die an den Festlandsbörsen gehandelten A-Aktien weisen ein Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) auf Sicht der kommenden zwölf Monate von annähernd 20 auf. In dem dem früheren deutschen “Neuen Markt” ähnlichen Chinext-Segment lag das KGV auf Basis der bereits vorgelegten Ergebnisse bei 112 und auf Basis der Erwartungen für die kommenden zwölf Monate bei fast 60. Das sind schon extreme Überbewertungen.Dies führt uns zum dritten Punkt, dass nämlich die Gewinnentwicklung der notierten Unternehmen nicht nachkam. Der Markt lief extrem vorweg, die Gewinne blieben eher stabil mit einem Anstieg von rund 10 % pro Jahr.- Wie ist es dazu gekommen, dass der Markt derart stark vorweglief?Der Markt wird primär – zu etwa 80 bis 90 % – von Retail-Investoren getrieben. Hinsichtlich des Know-hows der Anleger ist der Markt in China noch relativ wenig entwickelt. Das Anlegerverhalten hat sicher zu den Turbulenzen beigetragen.- Gibt es weitere Ursachen für die aktuell schwierige Lage?Die Regierung hatte hinsichtlich der Liquiditätszufuhr zu den Märkten bewusst auf die Bremse getreten. Sie hat auch mit Blick auf die Verschuldungssituation der Unternehmen und die Preisentwicklung auf dem Immobilienmarkt auf die Bremse getreten. Die Staatsführung hat sich wegen des hohen Leverage am Aktienmarkt Sorgen gemacht, also wegen des hohen Niveaus an kreditfinanzierten Aktienkäufen. Es hat eine ganze Reihe von Regulierungen mit dem Ziel eines bewussten Deleveraging gegeben. Hinzu kam die charttechnische Dimension. Die Volatilität an den Festlandsbörsen befand sich auf dem höchsten Stand seit sechs Jahren. Die negativen charttechnischen Signale haben das Bild während des Abschwungs noch einmal verdüstert.- Wie wird sich die Lage Ihrer Ansicht nach weiter entwickeln? Stehen wir schon vor einer Bodenbildung?Wir haben zwar in den vergangenen zwei Wochen im Rahmen der Baisse viel gesehen, zum Beispiel, dass der Markt nicht mehr von Fundamentaldaten getrieben, sondern nur noch vom Sentiment gesteuert ist. Das signalisiert, dass man als Anleger sehr vorsichtig sein muss. Vor zwei Wochen hat daher auch der Markt auf die Stützungsmaßnahmen von Regierung und Zentralbank kaum mehr reagiert. Wir haben uns in einem parabolischen Aufschwung befunden, der dann auch zu einem extremen Abschwung geführt hat. Eine Bodenbildung sehe ich aktuell noch nicht, auch wenn heute zu hören war, dass einzelne Positionen schon wieder aufgenommen worden sind. Anleger sollten jedenfalls nicht ins fallende Messer greifen. Immerhin gehen die Übertreibungen aus dem Markt, die Bewertungen sind schon deutlich zurückgekommen. Allerdings ist wichtig, dass die Prämie, die die A-Aktien an den Festlandsbörsen gegenüber den in Hongkong notierten H-Aktien aufweisen, weiter abgebaut wird. Vor allem aber müssen zunächst die Gewinne der Unternehmen nachziehen. In dieser Hinsicht sind wir weniger optimistisch, weil sich die Produzentenpreise in China seit drei Jahren negativ entwickeln. Es herrscht also quasi Deflation in China, was die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in China trifft. Und außerdem ist das Niveau des Handels, bei dem Hebeleffekte ausgenutzt werden – das sogenannte Margin Trading -, weiter sehr hoch. Die sogenannte Margin Balance beträgt nach wie vor umgerechnet 2 Bill. Yuan. Bislang ist man nur knapp 20 % vom Top heruntergekommen.- Hat die Regierung genug getan, oder kann und sollte sie noch mehr tun?Über die vergangenen Tage ist auch mit Blick auf die Zentralbank der Druck im Kessel gestiegen. Das hat die People’s Bank of China jetzt auch zu dem klaren Statement veranlasst, dass man den Markt mit Liquidität unterstützen möchte. Man kann da Parallelen zum “Greenspan Put” ziehen, was alles monetär, verbal oder durch direkte Käufe von Banken und Pensionsfonds schon unternommen wurde. Was noch kommen könnte, wäre, dass die Zentralbank noch stärker agiert – sei es direkt oder über Umwege.- Wäre das sinnvoll?Es wäre die Frage zu stellen, ob das gesund ist.Wir sehen in China eine steigende Verschuldung auf der Unternehmensseite. Zudem hat die Regierung zuletzt hinsichtlich ihres bisherigen Kurs hin zu einem freien Spiel der Marktkräfte eine gewisse Abkehr vollzogen, indem sie versucht, direkt zu intervenieren. Von dem Ziel, zu einer freien Preisbildung an den Märkten zu kommen, rückt die Regierung damit ab. China will eigentlich die Währung liberalisieren, der Renminbi soll eigentlich in den IWF-Basket herein, A-Aktien sollen in den MSCI aufgenommen werden. Das wird in Frage gestellt.- Wie sollten sich europäische Anleger hinsichtlich China-Assets derzeit verhalten?Die Anleger sollten sehr vorsichtig sein. Momentan kann sich innerhalb von Stunden viel ändern, mit extremen Preisschwüngen von plus oder minus 10 %. Die hohe Volatilität dürfte noch anhalten. Für eine Empfehlung, in den Markt hereinzugehen, ist es noch deutlich zu früh.- Rechnen Sie mit Auswirkungen auf andere Kapitalmärkte außerhalb Chinas?Wir sehen bereits Auswirkungen auf Hongkong, weil Chinesen ihre Gewinne seit Anfang des Jahres mitnehmen, um ihre Margin Calls in China zu bedienen. Auch der Nikkei hat bereits reagiert. Hier könnte etwas Breiteres im Gang sein. Das Stichwort ist hier die Risikoaversion.—-Das Interview führte Dieter Kuckelkorn.