Hat die 60/40-Strategie ausgedient?
Investoren in Multi-Asset-Portfolios stehen nach einem historischen und schmerzhaften Jahr für Aktien und Anleihen unweigerlich vor der zentralen Frage: Hat das sogenannte 60/40-Portfolio, also ein Portfolio, das zu 60% aus Aktien und zu 40% aus Anleihen besteht, ausgedient? Dieser Frage gehen die Kapitalmarktexperten von Lombard Odier Investment Managers (LOIM) in einer Untersuchung nach. Die Studie liegt der Börsen-Zeitung vorab vor.
Im vorigen Jahr litten Multi-Asset-Strategien unter dem gleichzeitigen Kursrutsch an Aktien- und Anleihemärkten. „Besonders auffällig war, dass konservative Portfolios, die stärker auf Anleihen setzten, ebenso fielen wie ausgewogenere oder aktienlastige Engagements“, heißt es: Die Aktienallokationen hätten sich dabei zwischen 20% und 80% bewegt. Doch die Einbußen seien mit 17% bis 20% im Gesamtjahr sehr ähnlich. „Diese Underperformance von 60/40-Portfolios und ihren Varianten war auch weitgehend unerwartet. Im disinflationären Umfeld der vergangenen 30 Jahre hätten Anleihen bei fallenden Aktienmärkten Zuflucht geboten. Staatsanleihen hätten als Standardallokation zur Reduzierung des Portfoliorisikos und der Volatilität gegolten. Dies sei die Kernaussage der modernen Portfoliotheorie des Nobelpreisträgers Harry Markowitz. Sie habe zu der allgemein akzeptierten Überzeugung geführt, dass die Diversifikation in der Praxis das Einzige ist, das es bei der Kapitalanlage umsonst gibt.
Grundsätzlich funktioniere dieser Ansatz – selbst während der globalen Finanzkrise, als sich die Risikoprofile erwartungsgemäß verhielten, obwohl die Performance extrem negativ gewesen sei. Strategien mit höheren Allokationen in Anleihen hätten der Krise besser standhalten können als solche mit einem höheren Aktienengagement. „Doch im Jahr 2022 zerbrach diese Beziehung. Konservative, ausgewogene und wachstumsorientierte Risikoprofile generierten nicht nur ähnliche Erträge. Sie nahmen auch einen ähnlichen Verlauf. Die Aktienschwäche wurde nicht durch eine Anleihestärke ausgeglichen: Das 60/40-Portfolio und seine Cousins scheiterten“, halten Aurèle Storno, Chief Investment Officer (CIO), Multi Asset bei LOIM, und Alain Forclaz, Deputy CIO Multi Asset des Hauses, hierzu fest.
Dies verdeutlicht nach Ansicht der Experten zwei klare Defizite gängiger Multi-Asset-Ansätze. Erstens: Es zeige, wie eine Risikoprofilierung oder -kontrolle auf Basis der langfristigen Korrelationen zwischen Anlageklassen zum Problem werden könne, wenn diese Beziehungen zerbrechen. Kovarianzstrukturen – dies sind Muster, die beschreiben, wie sich Anleihe- und Aktienerträge gemeinsam verhalten – könnten volatil genug sein, um selbst die durchdachteste Diversifikationsstrategie auszuhebeln. „Sie verändern sich ständig, und das Risiko bleibt nie gleich: Irgendwann musste das, was sich seit über einem Jahrzehnt bewährt hatte, einfach auseinanderbrechen, möglicherweise innerhalb von wenigen Quartalen, wenn nicht gar Monaten“, so ihre Schlussfolgerung. Zweitens: Viele ausgewogene Portfolios seien zu sehr von Aktienrisiken abhängig – obwohl sie aufgrund ihrer Anleiheallokationen diversifiziert erschienen seien.
Seit Anfang der 1970er Jahre seien ausgewogene Portfolios von bedeutenden Talfahrten am Aktienmarkt mit nach unten gezogen worden, allerdings nicht im gleichen Ausmaß. „Dies zeigt, dass die Engagements vieler Multi-Asset-Strategien in Risikoprämien besser diversifiziert hätten sein können – unabhängig davon, wie das Portfolio auf die Anlageklassen verteilt war. Bei diesen Strategien verschleierte die Kapitalallokation das Konzentrationsrisiko und führte zu einem falschen Gefühl der Diversifikation“, sagen Storno und Forclaz.
Angesichts des jüngsten Scheiterns stelle sich die Frage, ob traditionelle Konstrukte wie das 60/40-Portfolio ausgedient hätten. Um die Performance des vorigen Jahres zu verstehen, sollten Anleger laut LOIM überlegen, was die Erträge des Grundpfeilers von Multi-Asset-Strategien langfristig angetrieben habe. Dazu vergleichen die Experten die Performance eines Portfolios mit 50% Aktien und 50% Anleihen mit einem Ziel, das man langfristig für angemessen ansehe: der Geldmarktrendite plus 4,4%. Langfristig erreiche das 50/50-Portfolio dieses Ziel. Es gebe allerdings zwei Ausnahmeperioden: Ende der 1970er Jahre – eine Zeit mit hohen und steigenden Realzinsen, als das Portfolio eine Underperformance von 30% verzeichnet habe; die Jahre nach der globalen Finanzkrise bis Ende 2021, als die Renditen mehr als zehn Jahre lang auf dem Tiefpunkt gewesen seien und das Portfolio eine Outperformance von 20% verzeichnet habe.
Daraus ergeben sich laut LOIM zwei Schlussfolgerungen. Erstens seien die steigenden Realzinsen – wie Ende der 1970er Jahre – nachteilig für die Erträge ausgewogener Portfolios im Jahr 2022 gewesen. „Zweitens profitierte das 50/50-Portfolio von den enormen Impulsen der Zentralbanken nach der globalen Finanzkrise und der Covid-19-Pandemie. Unserer Meinung nach wird es eine derart expansive Geldpolitik so bald nicht wieder geben“, so die Experten.
Für Anleger, die sich nun fragen, ob sie das 60/40-Modell verwerfen sollten, würden diese Erkenntnisse besagen, dass Vorsicht geboten sei. 2022 sei nicht das erste Jahr, in dem die Strategie sich massiv unterdurchschnittlich entwickelt hätte. „Die Aussichten in den kommenden Jahren dürften vom Verlauf der Realzinsen abhängen. Im Vergleich zu Ende 2021 erscheinen uns die Aussichten erheblich vorteilhafter.“
Anleger können laut LOIM zwei wichtige Lehren aus dem Jahr 2022 ziehen: Die Abhängigkeit von langfristigen Korrelationen und die Dominanz von Aktienrisiken in ausgewogenen Portfolios bergen erhebliche Risiken. Und eine Diversifikation nach Kapitalallokationen ist insgesamt nicht wirksam. Anleger müssten sich mehr anstrengen: Diversifikation müsse letztendlich hart erarbeitet werden. Wie lasse sich eine echte Diversifikation erreichen? Investoren sollten sich nicht auf langfristige Korrelationen oder Risikokennzahlen verlassen. Vielmehr müssten sie erkennen, dass es keine Garantie dafür gebe, dass eine Anlageklasse konstant über die Zyklen hinweg Zuflucht bietet. Bevor etwa Anleihen während des disinflationären Trends der vorigen Jahrzehnte zum wichtigsten Diversifikator geworden seien, entfiel diese Rolle in den 1970er Jahren auf Rohstoffe.
Doch wie können sich Anleger auf solche Veränderungen einstellen und sie erkennen, sobald sie in Bewegung gekommen sind? „Die langfristigen Korrelationen unter Anlageklassen können diese Erkenntnisse nicht bieten. Es ist wichtiger, Risikoprämien zu verstehen und unter ihnen zu diversifizieren. Dies eignet sich besser, um ein Multi-Asset-Portfolio auf gleichmäßige Engagements in verschiedenen Ertragsquellen auszurichten“, so die Ansicht. Dieser risikobasierte Ansatz für Multi-Asset-Anlagen biete eine sinnvolle Grundlage für Portfolioinvestments unter Anlageklassen – und die erforderliche dynamische Anpassung der Positionen. Das stehe im Gegensatz zu den starren Allokationsmethoden für 60/40-Portfolios. Das letztendliche Ziel eines risikobasierten Ansatzes ist für LOIM eine positive, stabile Performance über die Marktzyklen hinweg – durch Engagements in unterschiedlichen Ertragsquellen.