IM INTERVIEW: OSWALD GRÜBEL

"Jede Korrektur eine Kaufgelegenheit"

Ex-Bankchef: Liquiditätsflut hat die Welt grundlegend verändert - Ölpreis steigt wieder über 100 Dollar

"Jede Korrektur eine Kaufgelegenheit"

Mit konventionellen Ansichten können Investoren in der heutigen Welt nicht erfolgreich sein, ist Oswald Grübel überzeugt. Der ehemalige Credit-Suisse- und UBS-Chef verweist auf die Umwälzungen der zurückliegenden Jahre, darunter die Liquiditätsflut. Herr Grübel, seit einigen Wochen ergeht die Kunde, dass die Kleinanleger auch in Europa an die Börsen stürmen. Wie halten Sie es mit der Dienstmädchenhausse?Die Dienstmädchenhausse ist ein Phänomen aus der Vergangenheit. Es geht auf die Zeit zurück, als sich Kleinsparer bei der Suche nach dem Börsenglück auf das Hörensagen verließen. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Die Kleinanleger sind so gut informiert wie nie zuvor – dank dem Internet und seinen vielen, leicht zugänglichen Nachrichtenkanälen. Der durchschnittliche Informationsgrad ist so hoch, dass die Anlageberater in den Banken größte Mühe haben, ihren Kunden überhaupt noch einen Mehrwert zu liefern. Wie relevant sind solche Anleger für das Börsengeschehen?Kleinanleger können sehr viel bewegen. In den USA zählt die Plattform Robinhood, auf der Privatinvestoren kostenfrei kleinere Börsengeschäfte abwickeln können, rund 13 Millionen Kunden. Diese Herde kann sehr kraftvoll sein, wenn alle gleichzeitig in die gleiche Richtung laufen. Es sind die Investoren, welche gerade die Teslas und andere Technologiefirmen dieser Welt hochtreiben und dabei natürlich auch Geld verdienen. Wir werden das in Europa auch noch erleben. Was hier derzeit noch fehlt, sind die kostenfreien Handelsplattformen. Aber ein Verkaufssignal würden Sie aus diesem Phänomen nicht ableiten wollen.Nein, nicht mehr. Es gab mal eine Zeit, in der man verkaufen musste, wenn die große Welle der Kleinanleger ankam. Solche Wellen signalisierten nachweislich, dass die Börsen ihren Zenit erreicht hatten. Aber diese Weisheit ist von gestern, weil Kleinanleger eben keine unterinformierten Dienstmädchen mehr sind. Vielleicht sind manche Kleinanleger inzwischen sogar smarter als die sogenannten Profis. Wie meinen Sie das?Schauen Sie sich nur die Börsenentwicklung seit Mitte März an. Fast niemand hat diese steile Erholung vorausgesehen geschweige denn vorausgesagt – auch die professionellen Anleger nicht. Das sieht man an den Performance-Daten der Hedgefonds in diesem Jahr. Die vermeintlichen Masters of the Universe sind fast alle schlecht gefahren – von ein paar ganz wenigen Ausnahmen abgesehen. Mir scheint, als würden manche Profis die Herdenintelligenz der Privatanleger gern etwas besser verstehen. Aber dafür gibt es kein einfaches Muster mehr. In den USA bewegen sich manche Börsenindizes bereits wieder im Bereich der Allzeithochs. Sollte man deshalb vorsichtiger oder im Gegenteil mutiger werden?So kann ich die Frage nicht beantworten. Sicher ist aber, dass der Markt keineswegs stark überkauft ist. Das ist ein messbares Faktum. Viele institutionelle Investoren sitzen weiterhin auf sehr großen Cash-Beständen und sie warten nur darauf, diese investieren zu können. Solange dies so ist, wird es schwierig sein für den Markt, tiefer zu gehen. Zählt man die ganzen Staatshilfen und Notenbankinterventionen zusammen, kommt man auf eine Summe von rund 20 Bill. Dollar, die in den vergangenen sechs Monaten weltweit an zusätzlicher Liquidität geschaffen wurde – das entspricht etwa dem jährlichen Bruttosozialprodukt der USA und das wurde in kürzester Zeit geschaffen. Kann es in diesem Umfeld überhaupt noch Korrekturen geben?Es wird im Zusammenhang mit der Entwicklung der Pandemie immer mal wieder Angstmomente geben. Aber vorerst sieht es ganz danach aus, als ob die Korrekturen, die wir in den kommenden Wochen und Monaten sehen könnten, nur sehr kurzfristig sein werden. In der näheren Zukunft stellt jede Korrektur eine neue Kaufgelegenheit dar. Und die scharfe globale Rezession schreckt niemanden mehr?Sie hören ja selbst seit Monaten die Warnrufe der vielen Beobachter und der Markt steigt trotzdem Tag für Tag. Offenbar ist das Gefälle des konjunkturellen Abschwungs ein bestimmender Faktor für die Steilheit des Börsenanstieges. Das bestätigt eine Untersuchung, von der ich gerade gelesen habe: Je stärker die konjunkturellen Ausschläge nach oben wie nach unten, desto stärker steigen auch die Aktienkurse. Könnte es bei dieser Theorie nicht sein, dass sich die Katze in den eigenen Schwanz beißt?Wie kommen Sie darauf? Die Notenbanken werden ja seit 30 Jahren zunehmend expansiver. Sie schaffen viel zusätzliche Liquidität, die naturgemäß für stärkere Schwingungen in den Finanzmärkten sorgen muss.Das stimmt. Die Aussagekraft einer Indexveränderung von beispielsweise 10 % ist heutzutage weit geringer als vor 30 Jahren. Deshalb kann man historische Vergleiche nur noch sehr bedingt ernst nehmen. Die Liquiditätsflut hat die Welt grundlegend verändert. Nebst den Aktienmärkten ist auch der Goldpreis auf Rekordfahrt. Früher wiesen diese beiden Anlageklassen typischerweise eine negative Korrelation auf. Warum ist dies jetzt nicht mehr der Fall?Hauptsächlich amerikanische Anleger sind jetzt auf den Geschmack von Gold gekommen. Sie erkannten bald, dass auch die US-Zinsen noch viel tiefer fallen würden. Dahinter steht natürlich die Überlegung, dass die ganzen staatlichen Geldspritzen letztlich eine inflationäre Wirkung entfalten und den Wert der eigenen Währung schwächen werden. Goldanlagen wird gemeinhin zugetraut, dass sie solche Einschnitte ausgleichen. Ist das auch Ihre Meinung?Jein. Wer in den vergangenen Monaten auf Technologieaktien gesetzt hat, ist weit besser gefahren als mit Gold. Das Metall hat über einen längeren Zeitraum gesehen klar an Bedeutung und Signifikanz verloren. Trotzdem vermittelt Gold immer noch ein Gefühl von Sicherheit. Deshalb würde ich jedem Anleger mit einem größeren Portefeuille empfehlen, einen bestimmten Prozentsatz des Vermögens in Gold zu halten. Es ist eine Versicherung, die einem ein besseres Gefühl vermittelt. Firmenchefs können die Coronakrise auch als Vorwand benutzen, um tiefer liegende Probleme nicht ansprechen zu müssen. Bleiben schlechte Manager dank der Krise länger am Ruder?Ja, denn es wird ja Geld an Unternehmen verteilt, ohne dass sich diese einer echten Prüfung ihrer Bonität stellen oder eine angemessene Gegenleistung erbringen müssen. So gehen Milliarden verloren an Firmen, die eigentlich gar keine Unterstützung verdienen würden, weil sie auch ohne Krise längerfristig nicht überlebensfähig gewesen wären. In den vergangenen Monaten wurden viele Airlines und große Touristikunternehmen mit staatlichen Mitteln gerettet. Hätte man diese Firmen pleitegehen lassen sollen?Einige schon. Mindestens hätte man aber die Bonität dieser Firmen eingehender prüfen müssen. Als Begründung dafür, dass dies in den meisten Fällen gar nicht oder nur oberflächlich geschah, hieß es, alles müsse sehr schnell gehen. Aber die Politik entscheidet sich im Zweifelsfall immer für den Erhalt von Arbeitsplätzen, auch wenn deren Rettung nicht nachhaltig ist. Man wird bald sehen, dass sich viele Rettungsaktionen nicht gelohnt haben und die dafür eingesetzten Steuermilliarden werden sich in Luft auflösen. Offenbar gibt es dafür noch andere Gründe als die Coronakrise.So ist es. In vielen Branchen befördert die Coronakrise strukturelle Probleme schonungslos ans Tageslicht. Gilt das auch für die Automobilindustrie? Der Börsenwerte aller europäischen Automobilbauer zusammen beträgt nur mehr knapp 200 Mrd. Euro, während Tesla auf eine Marktkapitalisierung von über 300 Mrd. Dollar kommt.Diese Differenz zeigt, dass Märkte einen grundlegenden technologischen Wandel im Automobilgeschäft vorwegnehmen und dass die Investoren Tesla einen riesigen technologischen Vorsprung bescheinigen – zu Recht. Da kann man noch lange über die Bewertung einzelner Aktien reden. Das ist irrelevant. Vielmehr geht es nun um alte Technologie versus neue Technologie. Was heißt das für Deutschland?Deutschland hat ein großes Problem und wenn ich ein deutscher Politiker wäre, würde ich mir einige Sorgen machen, aber das scheint ja nicht der Fall zu sein. Was ist mit Europas Großbanken? Die Aktien notieren unverändert weit unter Buchwert. Offensichtlich haben die Investoren sehr grundsätzliche Vorbehalte gegenüber den bestehenden Geschäftsmodellen.So sieht es aus. Die starke Regulierung in Europa und eine seit Jahrzehnten verfehlte Kreditvergabepolitik vieler Banken vor allem in wirtschaftlich schwachen EU-Staaten haben das Vertrauen der Investoren in den Sektor gründlich untergraben. Man kann der Abschreibungspolitik europäischer Banken nicht ganz trauen. Sie bleiben zu lange auf schlechten Krediten sitzen, bis sie die Realität anerkennen. Müssen die Aktionäre befürchten, dass die Banken im Blick auf eine Zunahme der Firmenkonkurse wieder neues Kapital einschießen müssen?So weit wird es nicht kommen. Aber die Banken werden sicher große Abschreibungen vornehmen müssen. Gerade im Zusammenhang mit dem angesprochenen Technologiewandel werden einige Unternehmen aus der alten Welt nicht mehr in der Lage sein, ihre Kredite zurückzuzahlen. Zudem habe ich den Eindruck, dass die Banken relativ einfallslos sind, wie sie neue Kunden gewinnen können. Im Mai hat Royal Dutch Shell zum ersten Mal seit dem letzten Weltkrieg die Dividende gekürzt. Eine Witwen-und-Waisen-Aktie verliert ihren Nimbus.Royal Dutch Shell und andere große Erdölkonzerne gehören traditionellerweise zu den besten Dividendenzahlern der Welt. Sie waren gezwungen, ihre Ausschüttungspolitik anzupassen, denn mit der Coronakrise ist die Nachfrage nach Erdöl drastisch eingebrochen und Firmen mussten hohe Abschreibungen vornehmen. Langfristig sehe ich im Ölmarkt aber eine interessante Situation. Inwiefern?Zurzeit werden große Produktionskapazitäten zurückgebaut. Wenn wir dereinst wieder mehr Erdöl benötigen sollten, lässt sich dieses nicht so schnell abrufen. Dann wird der Erdölpreis wieder auf über 100 Dollar pro Fass steigen – von derzeit 40 Dollar. Viele Bank- und Investmentberater empfehlen seit Jahren den Kauf von dividendenstarken Aktien. Was halten Sie von dieser Strategie?Nichts. Warum nichts?Weil andere Faktoren wie die Gewinnentwicklung oder Innovation und Technologiewandel die Kurse so stark bewegen können, dass dabei selbst hohe Dividendenrenditen irrelevant werden. Zudem kommt bei jedem Unternehmen früher oder später der Zeitpunkt, an dem die Dividende gekürzt oder gestrichen werden muss. Ich würde nie eine Aktie nur wegen der Dividende kaufen. Umso weniger, als viele Unternehmen ihre Dividendenausschüttungen in den vergangenen Jahren mit Fremdkapital statt aus dem operativen Cash-flow finanziert haben. Eine absurde Politik.Sie ist sicher nicht nachhaltig. Aber man muss auch sehen: Der Druck auf die Unternehmen, Dividenden zu zahlen, ist im Umfeld von Negativzinsen enorm hoch. Das Interview führte Daniel Zulauf.