„Liar’s Poker“ – Zocker im Wall-Street-Dschungel
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Liar’s Poker, Michael Lewis, W.W. Norton & Company, ISBN 978-0393246100, 320 Seiten, 23,29 Dollar.
An einem Tag im Frühjahr 1986 flaniert John Gutfreund, CEO der Investmentbank Salomon Brothers, über den Trading Floor. Er steuert auf seinen besten Bondhändler, John Meriweather, zu, und fordert diesen zu einem Glücksspiel heraus. Der Einsatz für eine Hand: 1 Mill. Dollar. Meriweather, bekannt als „King of the Game“, König des Spiels, lässt sich jedoch nicht auf dumme Wetten ein. „Lass uns lieber um echtes Geld spielen. 10 Mill. Dollar“, kontert er – und Gutfreund, dessen Frau damals für horrende Summen das Apartment des Ehepaars umdekorieren lässt, muss einen Rückzieher machen.
Mit dieser Szene beginnt „Liar’s Poker“ von Michael Lewis – einer der Klassiker der Finanzliteratur, der die Kultur und Unkultur der Wall Street in den 1980er Jahren so auf den Punkt bringt wie wenige andere Werke. Das titelgebende Spiel, in dem sich Gutfreund mit Meriweather messen will, ist recht einfach: Jeder Spieler nimmt eine Dollarnote zur Hand und betrachtet die Seriennummer, ohne diese den anderen Teilnehmern zu zeigen. Wer anfängt, gibt einen Tipp darüber ab, wie häufig eine bestimmte Ziffer insgesamt in den Seriennummern aller im Spiel befindlichen Scheine vorkommt – er tippt zum Beispiel auf drei Sechsen. Der nächste Spieler kann ihn überbieten, indem er die gleiche Anzahl einer höheren Ziffer („drei Achten“) oder eine höhere Anzahl jedweder Ziffer („vier Fünfen“) aufruft. Dies setzt sich fort, bis ein Spieler seinen Nebenmann der Lüge bezichtigt. Liegt er richtig, gewinnt er die Runde – liegt er falsch, gewinnt der Bezichtigte.
Die Trader von Salomon Brothers, so berichtet es Lewis, spielten fast jeden Nachmittag Liar’s Poker, meist um einige 100 Dollar. Das Spiel als Metapher für die Botschaft, dass im Investmentbanking Exzesse und eine ausgeprägte Zockermentalität verbreitet sind, zu deuten, wäre indes zu vereinfachend. Denn der Autor nutzt Liar’s Poker, um die Unterschiede zwischen der Außenwahrnehmung großer US-Banken und ihrem Innenleben zu verdeutlichen. Salomon-CEO Gutfreund beispielsweise wurde von der Zeitschrift „Business Week“ 1985 als „König der Wall Street“ tituliert – bei seinen Tradern gilt er jedoch als Außenseiter aus dem Management, der es nicht mit dem „King of the Game“ John Meriweather aufnehmen kann. Die Trader-Teams, insbesondere im Bondhandel von Salomon Brothers, bilden eingeschworene Gemeinschaften, die dem Management misstrauisch gegenüberstehen, aber auch untereinander starke Rivalitäten pflegen.
Lewis, zwischen 1984 und 1988 für die Investmentbank tätig, eröffnet in seinem Klassiker zwei Handlungsstränge. In einem beschreibt er kenntnisreich und unterhaltsam die Geschichte wichtiger Wall-Street-Institutionen und Finanzinstrumente, insbesondere hypothekenbesicherter Anleihen und Junk Bonds. Dabei stehen natürlich die Vorgänge innerhalb von Salomon Brothers im Mittelpunkt, beispielsweise während des letztlich gescheiterten Versuchs einer feindlichen Übernahme des Geldhauses durch den Corporate Raider Ronald Perelman im Jahr 1987.
Der andere Handlungsstrang zeichnet mit sprühendem Witz die persönlichen Erfahrungen des Autors während seiner Zeit bei Salomon Brothers nach – von seiner Trainee-Phase über seine Erfolge und Fehlschläge als Bond-Vertriebler in London bis zu seinem Ausstieg. Lewis räumt dabei ein, dass er, wie viele seiner Kollegen, weder ein tiefgreifendes Verständnis der Finanzmärkte noch ein gesundes Verhältnis zu den Summen, für die er mitverantwortlich war, besaß.
Die Wall Street, so wird wiederholt deutlich, funktionierte in den 1980er Jahren vor allem nach dem „Gesetz des Dschungels“. Obwohl die meisten Finanzmarkt-Neueinsteiger damals Wirtschaftswissenschaften studiert hätten, sei auf dem Trading Floor weder ökonomische noch finanzielle Expertise gefragt gewesen. Vor allem sei es darauf angekommen, unter Druck zu funktionieren, andere einzuschüchtern und die Schwächen von Geschäftspartnern und Gegnern auszunutzen.
Wenngleich „Liar’s Poker“ ein äußerst unschmeichelhaftes Bild der US-Finanzmärkte und ihrer führenden Vertreter zeichnet, hat Lewis’ Werk den Mythos Wall Street doch angefacht. Nachfolgende Trader-Generationen verstanden es gar als Anleitung für eine erfolgreiche Karriere. Den Leser beschleicht damit der Verdacht, dass die Praktiken auf den heutigen Trading Floors gar nicht so stark von den bei Salomon Brothers in den 1980er Jahren üblichen Vorgängen abweichen, wie viele Protagonisten es wahrhaben wollen.