Niedrige Zinsen rechtfertigen größeres Aktien-Exposure
Mitte August 2019 war es soweit: Die Renditen für Bundesanleihen notierten komplett unter 0 %. Selbst für dreißigjährige Anleihen war die Rendite negativ. Der Schmelzprozess bei den Renditen begann schon vor einigen Jahren. Zum einen waren es die klassischen fundamentalen Faktoren, die Druck auf die Renditen ausübten. Wachstums- und Inflationsraten haben sich in der Eurozone auf niedrigem Niveau eingependelt. Diese zyklische Komponente alleine rechtfertigt aber nicht Renditen unter 0 %. Denn in der Regel sind die nominale Wachstumsrate einer Volkswirtschaft und der (längerfristige) Kapitalmarktzins in Verlauf und Höhe sehr ähnlich. Dieser Zusammenhang ist allerdings nicht zuletzt durch die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) aufgehoben worden. Mit ihren Zinsabsenkungen, ihrer Forward Guidance (dem Versprechen, die Leitzinsen für längere Zeit auf dem derzeitigen oder sogar tieferen Niveau zu belassen) und ihren nun wiederaufgenommenen Wertpapierkaufprogrammen hat sie über mehrere Kanäle für das Verschwinden positiver Renditen gesorgt. Ein Kanal ist der Nachfragekanal. Bislang hat die EZB 2,6 Bill. Euro an Wertpapieren erworben. Weitere Käufe werden ab November folgen. Bei zum Teil rückläufigem Angebot an Staatsanleihen musste der Bondmarkt ein neues Gleichgewicht mit höheren Preisen und geringeren Renditen finden. Ein anderer wichtiger Kanal ist der Erwartungskanal. Das glaubhafte Versprechen, die Leit- und damit Geldmarktzinsen niedrig zu halten, setzt sich auch am Kapitalmarkt durch.Zum anderen sind auch strukturelle Gründe zu nennen. Kreditrisikolose Staatsanleihen wie Bundesanleihen sind ein Krisen- und Sicherheitsasset. Schließlich gibt es Anlegergruppen, die wie Versicherungen und Pensionskassen regulatorisch bedingt auf beste Bonitäten in ihren Anlagen nicht verzichten können. Bei solchen Anlegern steigen mit fallenden Zinsen ihre Verpflichtungen, ihre Reaktion liegt dann darin, zusätzliche Duration auf der Aktivseite zu erwerben, was den Renditerückgang sogar noch beschleunigen kann. So war es kürzlich zu beobachten gewesen (Stichwort: Convexity Hedging).Wer sich davon ausgehend nun der Frage widmet, wann das Renditetiefzeitalter einer neuen Ära weicht, muss beantworten können, welche der genannten Begründungen am ehesten zurückweichen wird. Schnell rückt dabei die Geldpolitik ins Zentrum. Aber selbst hier ist viel Geduld gefragt. Die EZB wird sich für die Normalisierung ihrer Geldpolitik viel Zeit nehmen, ceteris paribus ist eine Rückkehr der Renditen auf Niveaus, wie sie etwa bis zur großen Rezession herrschten, sehr unwahrscheinlich. Das ist für Investoren im Euro-Rentenmarkt eine neue Situation, für solche in der Schweiz oder in Japan aber schon jahrelang geübte Praxis. Es könnte gut sein, dass der Anleihemarkt der Eurozone dem japanischen folgt: Die Renditen verharren auf tiefem Niveau, der Gesamtertrag von Anleiheinvestments ebenso. Seit Juli 2000 lag die annualisierte Jahresperformance japanischer Bonds (gemessen am Bloomberg Barclays Japanese Aggregate) bei 1,9 %.Niedrige Renditen haben auch eine andere Auswirkung: Aktien gelangen zunehmend in den Fokus von Investoren. Denn wenn davon ausgegangen werden muss, dass auf absehbare Zeit keine echte Zinswende eintritt, könnte Aktien aufgrund ihrer in Relation zu Anleihen aussichtsreicheren Ertragsperspektive eine gewichtigere Rolle zukommen.Auf den ersten Blick fällt die im Vergleich zu Bonds hohe Dividendenrendite auf. Mit bis zu über 5 % durchschnittlicher Ausschüttung (FTSE 100) müssten die Aktienkurse von ihren aktuellen Ständen in der kurzen Frist scharf korrigieren, damit insbesondere in Europa durch das Aktien-Exposure eine geringere laufende Rendite erwirtschaftet wird als im Vergleich zu Anleihen. In den USA kommen unterstützend zu den Ausschüttungen Aktienrückkaufprogramme als Performancetreiber hinzu, die seit der US-Unternehmenssteuerreform im vergangenen Jahr deutlich zugenommen haben. Bei dem insbesondere in den USA zuletzt stark abgesunkenen Zinsniveau dürfte der Trend zur Umschichtung von Eigen- zu Fremdkapital der Unternehmen auch weiterhin anhalten.In der mittleren Frist führen die tieferen Renditen zu einer höheren Aktienrisikoprämie, denn die zu erwartenden Gewinnerwartungen (bis zu 8 % für die nächsten 12 Monate im S & P 500 und MSCI Europa) versprechen ggü. Anleihen Mehrerträge. Bewertungen gestütztNiedrige Zinsen stützen daneben auch die Bewertung – zumindest einerseits. Denn der Kurs einer Aktie basiert auf den zukünftigen Cashflows eines Unternehmens und der anschließenden Diskontierung auf den heutigen Zeitpunkt. Der Diskontierungssatz besteht zu einem Teil aus dem risikolosen Zins und einer Risikoprämie. Fällt der risikolose Zinssatz so wie es aktuell der Fall ist, sind ceteris paribus die in der Zukunft erzielten Erträge zum heutigen Zeitpunkt mehr wert. Höhere Bewertungen lassen sich also mit geringeren Diskontierungsraten durchaus rechtfertigen.Dieser Zusammenhang lässt sich anhand der Kurs-Gewinn-Verhältnisse demonstrieren, die sich aus dem Kehrwert der Summe aus Risikoprämie und risikolosem Zinssatz (der Gewinnrendite) bilden. Lässt sich beispielsweise eine Gewinnrendite von 5 % auf einen risikolosen Zinssatz von 2 % und eine Risikoprämie von 3 % zurückführen, dann würde ein Rückgang des risikolosen Zinssatzes um einen Prozentpunkt bei gleichbleibender Risikoprämie das Kurs-Gewinn-Verhältnis von 20 auf 25 erhöhen.Demgegenüber steht andererseits die Annahme, dass der niedrige Zinssatz fundamentale Faktoren zur Grundlage hat, also durch die geringere Sachkapitalverzinsung der Volkswirtschaft zu erklären ist. Demnach lassen sich immer weniger renditeversprechende Investitionsopportunitäten realisieren (Annahme im Rahmen der säkularen Stagnationsthese), was zur Folge hat, dass die Investitionsnachfrage reduziert und die Liquidität von den Unternehmen gehortet wird.Am Beispiel des Gordon-Growth-Wachstumsmodells kann diese Annahme dargestellt werden. Der heutige Preis einer Aktie ergibt sich aus der kommenden Dividendenausschüttung geteilt durch die Gewinnrendite minus der Wachstumsgeschwindigkeit. Teilt man jetzt diese Gleichung durch die Gewinne, erhält man auf der einen Seite das Kurs-Gewinn-Verhältnis einer Aktie und auf der anderen Seite die Ausschüttungsquote dividiert durch die Differenz von Gewinnrendite und Wachstumsgeschwindigkeit. Sollte die Gewinnrendite in ähnlicher Geschwindigkeit sinken wie die Wachstumsgeschwindigkeit, können die gesunkenen Zinsen auch ergebnisneutral auf die Bewertungen von Aktien erfolgen. Aus den rückläufigen und weniger ertragsversprechenden Investitionen und den geringeren Diskontierungssätzen ergibt sich also in Summe keine eindeutige Auswirkung auf die zukünftigen Bewertungen von Aktien. Durchaus teuerZusammenfassend lässt sich festhalten: Auch wenn die Aktienindizes derzeit vor allem in den USA in absoluten Bewertungskennzahlen durchaus teuer erscheinen, lässt sich in Relation zu festverzinslichen Wertpapieren ein erhöhtes Aktien-Exposure insbesondere hinsichtlich der laufenden Ertragskomponente durchaus vertreten. Langfristig lässt sich jedoch nur bedingt ableiten, welche Effekte die niedrige Verzinsung auf die Kursentwicklung von Aktien haben wird. Die realisierten Renditen der Vergangenheit, sowohl für Anleihen als auch für Aktien, dürften in Europa aber in der Zukunft kaum zu erreichen sein. Zuletzt erschienen: Investitionen in Abfallwirtschaft (88), Pictet Asset Management Dividendentitel bleiben alternativlos (87), Metzler Capital Management —-Stefan Köhling, Portfoliomanager, Hauck & Aufhäuser Global Investment Management