Stagflationsangst

Stagflation: Wie ernst ist die Gefahr?

Derzeit greift die Furcht vor einer Stagflation, also einer Kombination aus wirtschaftlicher Stagnation und Inflation, um sich. Tatsächlich sind die Voraussetzungen dafür nicht gegeben.

Stagflation: Wie ernst ist die Gefahr?

Es gab eine Zeit, in der Stagflation – eine Kombination aus wirtschaftlicher Stagnation und Inflation – als ein Mythos angesehen wurde. Wie konnte das Wachstum stagnieren, während die Preise weiter stiegen? Dann kamen die 1970er Jahre. US-Präsident Richard Nixon ließ den Dollar abstürzen, indem er den Goldstandard aufhob, mit entsprechenden Folgen für die inländische Inflation. Ferner kletterten die Ölpreise dank eines Embargos. Die Unternehmen reagierten mit höheren Preisen, was sich negativ auf ihre Erträge auswirkte. Erst durch eine schmerzhafte Reihe von Zinserhöhungen und Rezessionen konnten die Vereinigten Staaten die Krise endlich abschütteln.

Der Begriff Stagflation, der in den 1970er und frühen 1980er Jahren weit verbreitet war, verschwand in den folgenden Jahrzehnten im Wesentlichen aus dem Sprachgebrauch. In jüngster Zeit ist er jedoch wieder in Mode gekommen, da die Inflation deutlich angestiegen ist. So stieg der Verbraucherpreisindex in den USA im September um 5,4% gegenüber dem Vorjahresmonat und ist damit auf dem besten Weg, die höchste Zuwachsrate seit mindestens 1990 zu erreichen. Gleichzeitig haben sich die Inputkosten aufgrund von (Liefer-)Engpässen verteuert, was dazu beigetragen hat, dass der Erzeugerpreisindex im September im Jahresvergleich um 8,6% gestiegen ist.

Plötzliche Wende ambitioniert

Wenngleich die Aufwärtsrisiken bei der (US-)Inflation in den vergangenen Monaten nochmals zugenommen haben (Stichwort Energiepreise), ist ein Schwenk in die (Preis-)Historie ratsam: Die USA hatten in den vergangenen vier Jahrzehnten Schwierigkeiten, selbst eine jährliche Inflationsrate von 4% über einen langen Zeitraum zu halten. In den 1980er und 1990er Jahren lag der Durchschnitt bei etwa 3,5%, und in den vergangenen 20 Jahren waren es nur 2%. Ein plötzlicher Shift des Inflationsregimes scheint von dieser Warte aus mindestens ambitioniert.

Mit Blick auf die Wachstumsseite der Stagflationsthese kommen noch mehr Zweifel auf. So erwartet der Internationale Währungsfonds das US-Wachstum 2021 und 2022 im Mittel bei über 5%, ähnliche Prognosen gibt es für das Welt-BIP. Eine erhöhte Inflation und ein sich verlangsamendes Wachstum fühlen sich zwar an wie Stagflation. Das Wachstum ist jedoch zu stark, um als stagflationär zu gelten.

Der Blick in die (US-)Historie ergänzt abermals: In der letzten Stagflationsepisode von Ende 1973 bis 1975 lag die Inflation im Durchschnitt bei 11%, während das reale BIP um 3,1% schrumpfte. Heute liegt die Inflation bei 5,4%, aber das reale BIP wächst mit einem kräftigen Tempo von rund 4%.

Rasche Zinsschritte erwartet

Abseits der ökonomischen Realität liegt der Investoren-Fokus derzeit hartnäckig auf dem Stagflationsgespenst, angeführt von der Inflationsfantasie: Die marktbasierten Inflationserwartungen in den USA (5y5y inflation forward) haben am vergangenen Freitag einen neuen Jahreshöchststand von 2,41% erreicht. Nicht wenige Marktteilnehmer erwarten nun rasche Zinsschritte der Fed im ersten Halbjahr 2022.

In diesem Kontext ist ein aktuelles Fed-Paper von Jeremy Rudd aufschlussreich. Während viele Ökonomen, wirtschaftspolitische Entscheidungsträger und Investoren der Ansicht sind, dass die Erwartungen der Haushalte und Unternehmen in Bezug auf die künftige Inflation eine wichtige Determinante der tatsächlichen Inflation sind, zeigt ein Überblick über die einschlägige theoretische und empirische Literatur, dass diese Annahme auf einem äußerst wackeligen Fundament steht. Dies dürfte denn auch ein Grund sein, warum die Fed und auch die EZB die Inflationserwartungen nicht allzu sehr huldigen.

Gesunde Inflationsdynamik

Die jüngsten (US-)Verbraucherpreise bestätigen zudem eine gesunde Inflationsdynamik: Die Preise für Waren- und Dienstleistungskategorien, die von den Verbrauchern im August und September gemieden wurden, sind deutlich zurückgegangen. Da die Ausgaben für Gebrauchtwagen schrumpften und die Nachfrage nach Reisen und Freizeitaktivitäten immer noch durch den Anstieg der Delta-Infektionen gebremst wurde, gingen die Preise für Gebrauchtwagen, Mietwagen, Hotels und Flugtickets allesamt stark zurück. Ein Hauptrisiko für die Inflationsaussichten ist jedoch die Möglichkeit einer Rückkopplung zwischen Lohnwachstum und Verbraucherpreisinflation. Während früherer Hochinflationsphasen war dieser Zyklus in der Regel sehr stark. Doch nachdem die Wirtschaft in den 1990er Jahren in ein Niedriginflationsregime überging, ließ diese Dynamik nach.

Insgesamt sind viele Faktoren, die in den 1940er und 1970er Jahren zu einem Wechsel des Inflationsregimes führten, wie die Politisierung der Fed, Preiskontrollen, massive Währungsabwertungen und Ölpreisschocks, heute nicht mehr vorhanden. Stattdessen dürften strukturelle Faktoren wie höhere Ersparnisse und geringere Ausgaben aufgrund der Alterung der Bevölkerung, anhaltender technologischer Fortschritt, solides Produktivitätswachstum nach der Pandemie und eine anhaltende Globalisierung den Preisdruck in Grenzen halten. In anderen Worten: Da die Inflationsaussichten global letztlich begrenzt bleiben, kommt es erst gar nicht zu einer weltweiten, signifikanten Lohn-Preis-Spirale.

Anhaltende Sektorrotation

Das Marktverhalten in diesem Jahr deutet darauf hin, dass ein weiterer moderater Anstieg der risikofreien Zinssätze wahrscheinlich eine anhaltende Rotation in den Aktiensektoren auslösen wird, bei der Value-orientierte und Reopening-Titel wachstumsorientierte, hoch bewertete Aktien und Sektoren schlagen. Für das meistgehandelte Währungspaar sollte die Unterseite zunächst magnetisch bleiben: deutlich höhere Euro-Dollar-Niveaus dürften auch in den kommenden sechs Monaten nur begrenzt auftreten, da nicht zuletzt das Streichen des „Downward-Bias“ bei der Zins-Forward-Guidance erst ab Mitte 2022 erfolgen sollte. Bis dahin dürfte ein erhöhtes APP für das Ende des ersten Quartals 2022 ausgelaufene PEPP kompensieren. Die transatlantische geldpolitische Divergenz wird also erst noch einmal größer.

Deutlich ungemütlicher könnte es werden, wenn sich neben die Stagflationsangst persistent emporschießende Energiepreise gesellen. Dies könnte ein Katalysator für eine ausgeprägtere Risk-Oof-Bewegung sein. Hier kommt es stark auf den Winterverlauf, den Start von Nordstream 2 und die Opec plus an.

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