Türkei bleibt fundamental verletzlich

Aktienmarkt in Istanbul und die Lira reagieren mit Kurssprüngen auf absolute Mehrheit für regierende AKP

Türkei bleibt fundamental verletzlich

Die Aussicht auf stabile politische Verhältnisse macht die Türkei für Investoren wieder attraktiv. Doch auf mittlere Sicht bleiben die Risiken hoch, insbesondere falls Präsident Recep Tayyip Erdogan verstärkt autoritär regiert und etwa die Unabhängigkeit der Notenbank in Frage stellt.Von Stefan Schaaf, FrankfurtViele Marktteilnehmer hatten sich auf eine Fortsetzung der politischen Hängepartie in der Türkei über die Wahl am Sonntag hinaus eingestellt. Der klare Wahlsieg der konservativ-islamischen Partei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan war deshalb eine große Überraschung. Die AKP errang 317 der 550 Parlamentssitze. Allerdings fehlen ihr 13 Mandate, die nötig sind, um ein Referendum über Verfassungsänderungen in Gang zu setzen.”Die politische Unsicherheit, die mit der Pattsituation im Parlament verbunden war, hatte zuletzt den Aktienmarkt und die türkische Währung belastet”, erklärte Erdinc Benli, Co-Leiter des Teams für Schwellenländeraktien bei GAM. Die Rückkehr des Vertrauens der Märkte zeigte sich deutlich am Rückgang des Preises für fünfjährige CDS auf Staatsanleihen der Türkei. Er lag am Montag bei 236 Basispunkten, rund 20 Basispunkte weniger als am Freitag. Allerdings hatte der Rückgang schon vor einem Monat eingesetzt, seit Ende September sank der CDS-Preis um 100 Basispunkte. Damit fielen die CDS auf ihr Niveau von Ende Juli/Anfang August zurück, als die innenpolitische Lage in der Türkei zwar bereits verworren war, aber die jüngste Gewaltwelle insbesondere im Südosten des Landes noch nicht begonnen hatte. Die Parlamentswahl im Juni brachte keinen klaren Gewinner hervor. Koalitionsgespräche scheiterten, so dass es zu der Neuwahl kam.Ein ähnliches Kursbild wie die CDS zeigte die türkische Lira. Mit einem Kurs von 3,0437 Lira je Euro war sie so fest wie zuletzt am 11. August. Zum Dollar betrug das maximale Tagesplus 5,4 %, so dass der Kurs bei 2,7577 Lira je Dollar lag. Hinter dem Kursgewinn stand die Hoffnung, dass es nun zügig zu einer Regierungsbildung und der Vorlage eines Staatshaushaltes kommt, womit sich auch das Wirtschaftsklima wieder aufhellen sollte. “Wir erwarten eine Rally der Lira in den kommenden Tagen”, kommentierte Lubomir Mitov, Chefvolkswirt für osteuropäische Schwellenländer bei Unicredit. “Gleiches gilt für türkische Aktien und Bonds.” Da viele Investoren die Türkei untergewichteten, sei mit kräftigen Zuflüssen zu rechnen.Auch am Istanbuler Aktienmarkt wurde der AKP-Wahlsieg gefeiert. Der Leitindex ISE 100 legte 5,4 % auf 83 694 Punkte zu. “Eine Einparteienregierung ohne Verfassungsmehrheit sorgt für Stabilität”, erwartet Gregor Holek, Türkei-Experte bei Raiffeisen Capital Management. “Insbesondere Unternehmen mit Nähe zur AKP im Banken- und Immobilienbereich können in diesem Umfeld profitieren.” Doch auch diejenigen, die kurzfristige Kursgewinne in der Türkei erwarten, bleiben skeptisch. “Mittelfristig dürften in der Türkei wieder Sorgen um politische Interventionen, insbesondere seitens der Zentralbank, sowie den allgemeinen Mangel an rechtsstaatlichen Kontrollmechanismen aufkommen”, schreibt etwa die Commerzbank. Ein Test für die künftige Wirtschaftspolitik könnte die Geldpolitik werden, da die Inflationsrate jüngst wieder anzog und aktuell sogar über dem Leitzins liegt. Als Erdogan noch Ministerpräsident war, versuchte er die türkische Notenbank von einer Zinserhöhung abzubringen, damit sich das Wachstum nicht abkühlt. Der Versuch des Eingriffs in die Unabhängigkeit der Notenbank hatte Anleger verunsichert. Am Markt wird erwartet, dass die Notenbank erst die Zinsen erhöhen wird, wenn es in den USA zu einer Zinswende kommt. Falls die Inflation weiter ansteigt, so könnten unveränderte türkische Leitzinsen ein Belastungsfaktor für die Lira werden. Steigende US-Zinsen wären ein Problem für die Türkei, die angesichts eines Leistungsbilanzdefizits von rund 6 % der Wirtschaftsleistung und der hohen Auslandsverschuldung seiner Banken auf Kapitaleinfuhren angewiesen ist.Hinzu kommt das anhaltende politische Risiko, einerseits extern durch den Krieg im Nachbarland Syrien, aber auch intern wegen des Bürgerkriegs mit den Kurden sowie der Proteste des liberalen Bürgertums gegen das rabiate Vorgehen des Staates gegen Medien und Oppositionelle. “Sobald die Politik nicht mehr die Agenda beherrscht, werden Investoren wieder auf die fundamentale Verletzlichkeit zurückkommen”, so Barclays-Volkswirt Durukul Gun.