US-Wahl wirft Schatten voraus

Wall Street fürchtet Sieg der Demokraten auf ganzer Linie - Hausse von Technologiewerten dominiert

US-Wahl wirft Schatten voraus

Mit der starken Kurserholung von den Tiefständen im März haben die amerikanischen Aktienmärkte die meisten Hoffnungen der Wall-Street-Strategen bereits erfüllt. Anleger unterstellen ein starkes Gewinnwachstum der US-Konzerne. Ob diese Wetten gerechtfertigt sind, könnte nicht nur von neuen Infektionsraten mit dem Coronavirus abhängen. Auch ein möglicher Sieg von Joe Biden im November sorgt für Unwägbarkeiten.Von Norbert Kuls, New YorkDie Aktienstrategen der Wall Street können in diesem Jahr eigentlich schon einpacken. Nach einer kräftigen Erholung von den Tiefständen im März hat der S&P 500 die Kurserwartungen der meisten Auguren für das Jahresende bereits wieder übertroffen. Daran ändern auch die Rückschläge der vergangenen Woche nichts. Nach einer Umfrage des Wirtschaftssenders CNBC unter 16 führenden Strategen großer Banken und Wertpapierhäuser kalkuliert die Wall Street im Durchschnitt mit einem Indexstand von 2 978 Zählern am Jahresende – also rund 2 % unter dem aktuellen Niveau.Die Kurse an den US-Aktienmärkten waren trotz Coronakrise, Rezession und sinkenden Unternehmensgewinnen seit der vierten Märzwoche bis Freitag um 36 % gestiegen. Auch die sozialen Unruhen der vergangenen Wochen und landesweite Demonstrationen gegen Rassismus nach dem wiederholten Tod von Afroamerikanern in Polizeigewahrsam konnten dem Aufwärtstrend nichts anhaben. Beschwichtigt von rückläufigen Infektionszahlen in einstigen Epidemie-Hochburgen wie New York, staatlichen Konjunkturprogrammen sowie der Nullzinspolitik und den Anleihekäufen der Fed, wetteten Anleger massiv auf eine konjunkturelle Erholung.Erst in der vergangenen Woche hat die Sorge um eine mögliche zweite Virusinfektionswelle wegen der Lockerung der Ausgangsbeschränkungen sowie der Massenkundgebungen für herbe Verluste gesorgt. Dazu dämpfte der Fed-Vorsitzende Jerome Powell Hoffnungen auf eine rasche Rückkehr auf das wirtschaftliche Niveau vor Ausbruch der Pandemie. Zwischenzeitliche Rückschläge wegen der schwelenden Coronakrise hatten auch Optimisten nie ausgeschlossen. Sam Stovall von der Analysegesellschaft CFRA hält es für “normal”, wenn der Aktienmarkt die jüngsten Tiefstände “erneut testen” würde. “Aber ich glaube nicht, dass wir unter die alten Tiefs fallen werden, weil die Konjunkturprogramme bereits in den Wirtschaftskreislauf injiziert wurden.” Der Stratege unterstellt mit einem Ziel von 3 435 Punkten ein weiteres Kurspotenzial von rund 13 % und zählt damit zu den größten Optimisten. Bidens Chancen steigenZu den Pessimisten zählt Tobias Levkovich von der Citigroup, der einen Rückschlag von etwas mehr als 10 % auf 2 700 Zähler unterstellt, damit aber auch keine schwere Baisse befürchtet. Neben dem Coronavirus sorgen Levkovich die Unwägbarkeiten in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen im November. Die Amerikaner wählen in fünf Monaten nicht nur einen Präsidenten, sondern auch das gesamte Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats. Nach Einschätzung von Goldman Sachs wächst die Wahrscheinlichkeit eines Siegs des demokratischen Herausforderer Joe Biden und einer demokratischen Mehrheit in beiden Kongresskammern. Derzeit verfügen die Demokraten nur über eine Mehrheit im Repräsentantenhaus.Sollte es zu einem demokratischen Sieg auf ganzer Linie kommen, fürchtet Goldman eine teilweise oder völlige Aufhebung der im Jahr 2017 verabschiedeten Steuerreform. “Wir schätzen, dass eine komplette Umkehr den effektiven Steuersatz für S&P-500-Unternehmen von 18 % auf 26 % erhöhen würde”, so die Bank. Das würde die Unternehmensgewinne für die im Index abgebildeten US-Konzerne im Jahr 2021 um 11 % reduzieren. Analysten kalkulieren nach Angaben des Informationsdienstes Factset für das Jahr 2020 derzeit mit einem Rückgang der Unternehmensgewinne im S&P 500 um mehr als 21 % gegenüber dem Vorjahr. Für 2021 prognostizieren sie eine Erholung um knapp 30 %. Anleger erhoffen sich mehr. Denn auf Basis der für die kommenden zwölf Monate erwarteten Gewinne ist der S&P 500 mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 21 sehr hoch bewertet.Getrieben wurde der US-Aktienmarkt zuletzt vor allem von den großen Tech-Werten. Der Nasdaq Composite liegt auch nach den Einbußen der vergangenen Woche im Vergleich zum Jahresbeginn um mehr als 7 % im Plus. Allein auf die fünf größten Tech-Werte, die angeführt von Apple alle an der Nasdaq notiert sind, entfällt rund ein Fünftel des gesamten Börsenwerts des S&P 500. Auch zyklische Konsumwerte wie der Online-Händler Amazon gehörten in den vergangenen Monaten zu den Stützungsfaktoren des Marktes. “Technologie und die globalen Verbraucher stehen wahrscheinlich im Zentrum des Erholungsprozesses”, meint John Stoltzfus, Chefstratege von Oppenheimer Asset Management. Stoltzfus, der mit einem Kursziel von 3 500 Zählern für den S&P am Anfang des Jahres noch zu den größten Bullen der Wall Street gehört hatte, hatte sein Kursziel im März angesichts der starken Marktschwankungen zurückgezogen und trotz seiner allgemein optimistischen Haltung noch keine neue konkrete Prognose gewagt.Längerfristige Prognosen sind angesichts der vielen Unwägbarkeiten in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie generell schwierig. Ein Drittel der S&P-500-Konzerne hat die eigenen Prognosen für das Jahr 2020 wegen der unklaren Folgen ganz zurückgenommen. Damit fehlen Analysten wichtige Orientierungspunkte. “Das ist so, als würde man ohne Instrumente fliegen”, so Stoltzfus. Gleichwohl gründet der Stratege seine Zuversicht auf eine schnelle Reaktion von Regierung, Notenbank, Unternehmen und Bürgern auf die Pandemie. “Wir gewichten Aktien höher als Anleihen und ziehen zyklische Sektoren den defensiven Titeln vor”, sagt der Investmentstratege.