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Warum wir eine neue Aktienkultur brauchen

Börsen-Zeitung, 17.5.2014 43,9 Millionen zugelassene Pkw gibt es nach Angaben des Kraftfahrt-Bundesamtes in Deutschland. Statistisch betrachtet besitzt also mehr als die Hälfte der Bundesbürger ein eigenes Fahrzeug. Völlig anders stellt sich die...

Warum wir eine neue Aktienkultur brauchen

43,9 Millionen zugelassene Pkw gibt es nach Angaben des Kraftfahrt-Bundesamtes in Deutschland. Statistisch betrachtet besitzt also mehr als die Hälfte der Bundesbürger ein eigenes Fahrzeug. Völlig anders stellt sich die Lage bei den Aktionären dar: Nach jüngsten Erhebungen des Deutschen Aktieninstituts (DAI) besitzen nur noch 8,9 Millionen Menschen in Deutschland Aktien oder Aktienfonds – also nur einer von sieben Einwohnern über 14 Jahren. Was sagen diese Zahlen über die Deutschen aus? Dass sie nach wie vor ein Volk von Autofahrern sind? Ganz sicher. Dass ihre Zuneigung zu renditestarken Investments deutlich schwächer ausgeprägt ist als die zum Automobil? Auch das kann man getrost bejahen – und zugleich bedauern. Vorsorge braucht RenditeDenn der Aktienmarkt erfüllt eine wichtige Funktion, für die Volkswirtschaft insgesamt, aber auch für private Anleger: Sie müssen sich heute mehr denn je um ihren Vermögensaufbau kümmern und selbst für ihr Alter vorsorgen. Das gelingt nur, wenn das angelegte Kapital nennenswerte Nettoerträge oberhalb der Inflationsrate erwirtschaftet. Mit sogenannten risikolosen Instrumenten wie Staatsanleihen und Sparbriefen ist dies derzeit allerdings kaum möglich. Für aufgeklärte Anleger sind Aktien daher ein Muss. Schließlich bietet keine andere Anlageform langfristig vergleichbar hohe Renditen. In jedem einzelnen 15-Jahres-Zeitraum seit 1963 hätten Anleger mit einer simplen Investition in den Dax positive Ergebnisse erzielt. Und in den 50 Jahren seit 1963 hätte ein Investment in den deutschen Aktienmarkt sogar eine jährliche Rendite von 7,4 % gebracht, wie das DAI jüngst errechnet hat.Allerdings steht es trotz dieser eindeutigen Faktenlage schlecht um die Aktienkultur in Deutschland. Dies zeigt sich im Vergleich mit anderen Ländern, deren Bevölkerung dem Kapitalmarkt traditionell offener gegenübersteht. So belegen etwa Zahlen des Analysehauses Gallup für die USA, dass 52 % der Bevölkerung direkt oder indirekt in Aktien investiert sind. Würden all diese Menschen auf Aktien setzen, wenn sie damit regelmäßig Verluste einfahren?Noch deutlicher wird das Ausmaß des Problems bei einem Blick auf die historische Entwicklung in Deutschland. Denn während die deutschen Aktienindizes im vergangenen Jahr von einem Höchststand zum nächsten eilten, zogen sich private Anleger weiter aus Aktieninvestments zurück. Die Zahl der Aktionäre und Besitzer von Aktienfonds sank um 569 000. Zwar blieb die Zahl der Aktionäre dabei stabil, jedoch war die Zahl der Besitzer von Aktien- und Mischfonds stark rückläufig. Seit dem Höhepunkt im Jahr 2001 haben 3,9 Millionen Menschen dem Aktienmarkt den Rücken gekehrt – also fast jeder dritte damalige Aktionär oder Aktienfondsbesitzer. Noch besorgniserregender ist das wachsende Desinteresse junger Menschen: Waren im Jahr 2001 noch 17,5 % der 20- bis 29-Jährigen an Aktien interessiert, waren es im vergangenen Jahr nur noch 8,7 % – eine glatte Halbierung. Dies ist vor allem deshalb bedenklich, weil diese Altersgruppe mehr denn je auf eigenverantwortliche Vorsorge fürs Alter angewiesen sein wird. Die demografische Entwicklung hin zu immer weniger Erwerbstätigen, die über die umlagefinanzierte Rentenversicherung für immer mehr Rentner aufkommen sollen, lässt keinen anderen Schluss zu. Steuerliche DiskriminierungEinerseits belastet das deutsche System der Rentenversicherung die heute Erwerbstätigen stark, ohne dass diese auf ähnlich hohe Renten hoffen dürfen wie die Angehörigen früherer Generationen. Andererseits hat das über Jahrzehnte gegebene hohe Rentenniveau eine Vollversorgungsmentalität befördert: Weiten Teilen der Bevölkerung erschien es schlicht unnötig, die vermeintlich hohen Risiken des Aktienmarktes in Kauf zu nehmen und so nachhaltig Vermögen aufzubauen.Doch die trügerische Sicherheit der staatlichen Rente ist längst nicht das einzige Hindernis für eine nachhaltige Aktienkultur. Problematisch ist auch die steuerliche Diskriminierung der Aktie gegenüber zinstragenden Anlagen und Versicherungen: Gewinne aus Aktieninvestments werden doppelt besteuert – einmal auf Unternehmensebene durch die Körperschaftsteuer, einmal bei den Anlegern durch die Abgeltungsteuer. Dies führt dazu, dass die Steuerlast bei Aktienerträgen bei gut 48 % liegt, während es bei festverzinslichen Anlagen nur 26 % sind.Eine weitere Herausforderung für die Aktienkultur ist die zunehmende Regulierung der Anlageberatung in den vergangenen Jahren. Durch neue Dokumentationspflichten wie das Beratungsprotokoll in der Anlageberatung zu Wertpapieren wurden den Beratern Fesseln angelegt. Sie sind seither versucht, auf andere Anlageinstrumente auszuweichen, die weniger bürokratischen Aufwand mit sich bringen. Zugleich hat sich der Schutz der Anleger durch die neuen Regularien nicht verbessert. Im Gegenteil: Die Papierberge schrecken viele Menschen schlichtweg ab, zumal sie den Inhalt der Dokumente ohnehin häufig nicht verstehen. Anlegerbildung nötigDamit sind wir beim letzten und womöglich folgenschwersten Problem angelangt: der mangelnden Finanzbildung der Deutschen. Die fehlenden Kenntnisse vieler Anleger zu allgemeinen ökonomischen Zusammenhängen und den Gesetzmäßigkeiten der Geldanlage führen zur völligen Abwendung weiter Teile der Bevölkerung von Anlageformen wie Aktien, Aktienfonds oder Zertifikaten. Sehr oft herrscht eine verzerrte Wahrnehmung der mit Aktieninvestments verbundenen Risiken vor: Einerseits wird die Gefahr durch alltägliche Kursschwankungen und regelmäßig vorkommende Bärenmärkte überbewertet. Andererseits werden die Risiken eines schleichenden Vermögensverlustes durch vermeintlich sichere Anlageformen mit Renditen unterhalb der Inflationsrate oder das Klumpen- und das Überschuldungsrisiko beim Erwerb einer Immobilie unterschätzt und nicht bei der Geldanlage berücksichtigt.Doch wie lassen sich die bestehenden Hindernisse für eine bessere Aktienkultur aus dem Weg räumen? Eine einfache Antwort auf diese Frage kann es angesichts der komplexen Gemengelage nicht geben. Die größte Aufgabe für alle Beteiligten ist allerdings, Finanzwissen auf einer möglichst breiten Basis in der Bevölkerung zu verankern. Deutschland braucht mehr aufgeklärte Privatanleger, die selbstbewusster investieren als bisher. Wissen und Verstehen sind der weit bessere Verbraucherschutz als die oftmals geforderten Gesetze und Verbote. Dazu müssen sich Anbieter, Anlegerschützer, Medien und auch Politiker um Aufklärung bemühen. Das allein wird allerdings nicht ausreichen. Wirtschaft und Finanzen müssen Einzug in die Lehrpläne aller Schulen in Deutschland halten, müssen genauso selbstverständlich unterrichtet werden wie Geografie und Geschichte. Wenn alle Akteure an einem Strang ziehen, besteht Hoffnung, dass sich die Zahl der Aktionäre in Deutschland der Zahl der Pkw-Besitzer endlich annähert.Dr. Christine Bortenlänger ist Geschäftsführender Vorstand des Deutschen Aktieninstituts (DAI), Christoph Lammersdorf ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Börse Stuttgart Holding GmbH.In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——–Von Christoph Lammersdorf und Christine Bortenlänger Wirtschaft und Finanzen müssen Einzug in die Lehrpläne aller Schulen in Deutschland halten.——-