IM INTERVIEW: JAN VIEBIG, ODDO BHF

"Wir haben eine Schocksituation"

EZB verharrt im expansiven Modus - Spreads in der Eurozonenperipherie könnten sich 2021 ausweiten

"Wir haben eine Schocksituation"

Jan Viebig, CIO von Oddo BHF, hält die Krisenmaßnahmen der Europäischen Zentralbank für richtig. Er sieht darin in den kommenden Monaten auch keinen Auslöser für kräftige Inflationsanstiege. Risiken vermutet er in Spread-Ausweitungen in der Eurozonenperipherie. An den Aktienmärkten sollten Zykliker 2021 die Nase vorn haben. Herr Viebig, die Europäische Zentralbank (EZB) hat auf der Dezembersitzung beschlossen, ihr Maßnahmenpaket auszuweiten. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?Das war an den Märkten so erwartet worden, deshalb ist es keine ganz große Überraschung gewesen. Die expansive Geldpolitik der EZB ist ein wesentliches und notwendiges Element zur Bewältigung der realwirtschaftlichen Folgen der Covid-19 Krise. Seit Beginn der Pandemie hat die EZB praktisch alle Staatsanleihen aufgekauft, die in dieser Zeit begeben wurden. Diese Strategie kann auch mit sehr langfristigen Folgen verbunden sein und könnte beispielsweise in einen Anstieg der Inflationsrate münden. In den kommenden zwölf Monaten rechnen wir aber nicht mit einem starken Teuerungsdruck. Der Grund ist in Europa, aber auch in den USA in einer Unterauslastung der Wirtschaft zu sehen. Die Arbeitslosenraten sind sehr hoch und werden vermutlich auch noch auf diesen Niveaus bleiben. Das führt in der Konsequenz dazu, dass wir keinen Inflationsdruck sehen werden. Ich denke, dass die EZB somit in diesem expansiven Modus bleiben wird. Wird das alles reichen, oder rechnen Sie im Verlauf des kommenden Jahres mit weiteren Ausweitungen der Maßnahmen?Frau Lagarde hat bereits angedeutet, dass der EZB-Rat weitere Maßnahmen beschließen wird, um die Wirtschaft zu unterstützen. Die EZB hat ihre Zentralbankbilanz von unter 1 Bill. Euro im Jahr 2004 auf nunmehr rund 7 Bill. Euro ausgedehnt. Ein historisch einmaliger Anstieg. Wenn die Wirtschaft in der Eurozone nicht auf den Wachstumspfad zurückfindet, rechne ich damit, dass bei den Maßnahmen noch einmal nachgelegt wird. Die EZB muss aber Maß und Mitte wahren, um einen sprunghaften Anstieg der Inflation nach der Krise zu vermeiden. Deshalb ist es so wichtig, dass die Geldpolitik in den nächsten Monaten durch eine expansive Fiskalpolitik weiter unterstützt wird. Als deutsch-französische Bank begrüßen wir es, dass die Europäische Union mit dem Wiederaufbaufonds und dem mehrjährigen Finanzrahmen 2021 bis 2027 die Geldpolitik bei der Bewältigung der Folgen der Covid-19-Krise nun nicht länger allein lässt. Wird das die Renditetalfahrt bei den Staatsanleihen der Eurozone weiter beschleunigen?Ich denke, dass wir mittlerweile recht nah am Tiefpunkt angekommen sind, insbesondere mit Blick auf die Spreads der südeuropäischen Staatsanleihen gegenüber den Bundesanleihen. Italienische Papiere werfen eine Rendite von knapp unter 50 Basispunkten ab, deutsche haben eine Rendite von minus 0,60 %. Mit diesen extrem niedrigen Renditen wird das Risiko insbesondere von italienischen Staatsanleihen nicht angemessen kompensiert. Die Staatsverschuldung in Italien lag im zweiten Quartal 2020 bei 149 % des Bruttoinlandsprodukts und wächst in allen Staaten der EU derzeit stark infolge der durch die Covid-19-Krise mitverursachten hohen Haushaltsdefizite. Es besteht ein nicht eben kleines Risiko, dass die Renditen von Staatsanleihen in einzelnen Ländern Südeuropas sprunghaft ansteigen könnten, wenn sich die Risikoeinschätzung der Marktteilnehmer in Zeiten von Stress an den Finanzmärkten im nächsten Jahr verändern sollte. Es gibt deshalb eindeutig bessere Anlagealternativen, als sehr niedrig oder gar negativ verzinste Staatsanleihen zu zeichnen. Wo sehen Sie die zehnjährige Bundrendite Mitte 2021 und Ende 2021?Ich sehe die zehnjährige Bundrendite bei minus 0,50 % bis minus 0,60 % im Verlauf des kommenden Jahres. Ich denke nicht, dass sich an diesen Niveaus sehr viel verändern wird. Es ist eher das Risiko vorhanden, dass sich die Spreads der Papiere der südeuropäischen Staaten ausweiten. Während die Zinsstrukturkurve in Europa sehr flach bleiben dürfte, wird sie in den USA vermutlich etwas steiler werden. Setzt sich damit die Jagd nach Rendite in Europa und auch in anderen Regionen fort und somit auch das Crowding-out der Investoren in andere Segmente?Das ist genau das Problem, das wir momentan beobachten: Alle Assetklassen sind in den vergangenen Monaten und auch Jahren sehr teuer geworden. Das gilt für Aktien, Immobilien und diverse andere Assets mehr. Das sind die Folgen der extrem expansiven Geldpolitik der Notenbanken. Wenn man sehr hohe Marktbewertungen an den Kapitalmärkten hat, kann man daraus zwei Schlüsse ziehen: Zum einen rein sachlich, dass künftige Renditen über lange Zeiträume niedrig bleiben dürften. Die zweite Schlussfolgerung ist: Die Wahrscheinlichkeit von herben Rückschlägen nimmt deutlich zu. Genau deswegen meiden wir hohe Kreditrisiken und setzen auf Qualitätsaktien. Die Jagd nach Rendite durch das Eingehen von immer höheren Kreditrisiken ist gefährlich. Wie gestaltet sich die Neuemissionstätigkeit von Anleihen seitens der Unternehmen im nächsten Jahr? Die Unternehmen haben in Reaktion auf die Krise in diesem Jahr ja schon kräftig emittiert.Dieser Trend zu einer anhaltenden Neuemissionstätigkeit wird sich 2021 fortsetzen. Wir sehen auch das Risiko, dass die Ausfallraten in bestimmten Segmenten deutlich ansteigen werden. Wir werden noch mehr Emissionen erleben. Und in früheren Krisen war zu beobachten, dass mit einer Verzögerung von etwa neun Monaten nach Krisenbeginn die Ausfälle bei den Unternehmen angestiegen sind. Im High-Yield-Bereich der USA gehen wir für kommendes Jahr von einem Anstieg der Defaults auf über 9 % aus. Das wird am Markt nicht ohne Spuren bleiben und sich auch auf das Emissionsgeschäft auswirken, und zwar dergestalt, dass die Investoren wieder verstärkt nach Qualität Ausschau halten werden. Der Fokus der Investoren am Unternehmensanleihemarkt wird sich 2021 verschieben. Welche Default-Entwicklung für die europäischen Unternehmen in den Rating-Bereichen Investment Grade und High Yield erwarten Sie 2021?Ausgehend von der Entwicklung in den USA sehen wir eine ähnliche Tendenz auch in Europa. Wir haben eine Schocksituation, die dazu geführt hat, dass bestimmte Branchen stärker als andere gelitten haben. Das sieht man sehr gut am Tourismus und im Hotelbereich. Momentan treten die Ausfälle aber noch nicht zutage, weil der Staat mit seinen Programmen aktiv ist. Insolvenzen müssen beispielsweise noch nicht angemeldet werden. Die Ausfallraten sind deshalb für eine Krise derzeit sehr niedrig. Modelle, bei denen künstliche Intelligenz eingesetzt wird, deuten aber darauf hin, dass die Ausfallraten in Europa im nächsten Jahr wie nach jeder Krise zeitlich versetzt stark steigen werden. Besonders betroffen von Ausfällen werden Unternehmen im Freizeit-, Transport-, Energie- und Rohstoffsektor sein, da diese Unternehmen besonders unter der Pandemie und den notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit leiden. Welche wirtschaftlichen Perspektiven haben Sie für die Entwicklung der Konjunktur in der Eurozone?Die Volkswirte der EZB haben ihre Prognosen nach unten korrigiert und erwarten nun, dass die Wirtschaft im Euroraum im nächsten Jahr nur noch um 3,9 % wachsen wird. Wir sind etwas optimistischer, da Pandemien typischerweise mit einem starken Einbruch und einer schnellen Erholung verbunden sind. Ökonomen sprechen von einem “erzwungenen Sparvolumen” infolge der Lockdowns, das nach der Pandemie wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückfließen wird. Zudem ist die Geld- und Finanzpolitik sehr expansiv. Wir können uns vorstellen, dass die Wirtschaft im Euroraum im nächsten Jahr um über 5 % wachsen könnte, wenn es zu keinen weiteren, längeren Lockdowns im Jahr 2021 kommen wird. Wir gehen zudem davon aus, dass die Märkte, die stark in der Krise gelitten haben, wie Frankreich, Spanien, Portugal, ein deutlich stärkeres Wachstum aufweisen werden als der Rest von Europa. Wie gestaltet sich die Entwicklung des Euro dann im kommenden Jahr?Der Euro wird aufwerten und der Dollar wird abwerten. Dafür sprechen verschiedene Punkte. Währungen schwanken normalerweise um die Kaufkraftparität, die bei Euro/Dollar bei 1,42 Dollar liegt. Zweitens wurden in den USA die Zinsen in der Pandemie nochmals gesenkt, in der Eurozone wurden sie stabil auf niedrigstem Niveau gehalten. Dadurch nahm die Renditedifferenz ab, was den Euro stärkte und den Dollar schwächte. Wir sehen zudem in den USA ein Twin-Defizit in Haushalt und Handelsbilanz. Die Anpassung findet üblicherweise über die Währung statt, also einen schwächeren Dollar. Zudem rechnen wir mit einer stärkeren Wachstumsbelebung in Europa im Vergleich zu den USA. Das sollte den Euro stützen. Wir sehen Euro/Dollar im nächsten Jahr durchaus in Richtung von 1,28 Dollar gehen. Welche Entwicklung sehen Sie für die europäischen Aktienmärkte 2021?Aktien sind derzeit genauso wie alle anderen Assets – Immobilien, Rohstoffe und Anleihen – recht hoch bewertet. Langfristig liegen die Erträge von Aktien gemessen am MSCI-World-Index bei guten 10 % pro Jahr. Bei hohen Bewertungen sind die künftig zu erwartenden Renditen aber meist geringer als im historischen Durchschnitt. Aktien bleiben dennoch unsere bevorzugte Anlageklasse, da die Gewinnrendite von Aktien höher ist als die Rendite von Staatsanleihen. Wir achten kaum auf die geografische Lage von Unternehmen, sondern suchen nach Qualitätsunternehmen weltweit, also Unternehmen, die hohe Kapitalrenditen und strukturelle Wachstumschancen aufweisen. Dieser Investmentansatz funktioniert, wie die Wertsteigerungen in unseren Portfolien zeigen. Wo sehen Sie den Dax Mitte und Ende 2021?Wie sich der Dax über kurzfristige Perioden entwickelt, kann man nicht seriös vorhersagen. Der deutsche Leitindex wird sich aber in den kommenden zehn Jahren vermutlich verdoppeln und auf über 26 000 Punkte steigen. Hinter dieser Aussage steckt die Annahme, dass der Dax im Durchschnitt um 7,2 % pro Jahr wachsen wird. Das ist eine vernünftige Annahme, wenn man gleichzeitig darauf hinweist, dass die Schwankungen von Aktien hoch sind. Welche Branchen favorisieren Sie für 2021, und von welchen sollten die Anleger lieber die Finger lassen?Wir sind Qualitätsinvestoren. Wir achten also auf Unternehmen, die einen hohen Return on Equity oder eine hohe Kapitaleffizienz haben. Vor diesem Hintergrund meiden wir bestimmte Werte. Dazu gehören für uns Banken und Energieunternehmen, aber auch Touristikunternehmen und Fluglinien. Wir sind also kein Value-Investor, der nach günstigen Opportunitäten Ausschau hält. Wir analysieren sehr genau, ob ein Unternehmen strukturell wächst und eben nicht nur aus rein konjunkturellen Gründen. Wir setzen daher langfristig auf Unternehmen, die von veränderten Konsumgewohnheiten, der Alterung der Bevölkerung, der wachsenden Mittelschicht in den Emerging Markets und der Digitalisierung profitieren. Was halten Sie nun von Zyklikern?Was wir momentan feststellen, ist eine grundlegende Änderung im Anlagestil: Die vergangenen zehn Jahre sind Wachstumswerte sehr gut gelaufen. Diese Werte sind derzeit über 300 % teurer als Value-Werte. Das wird sich nun im nächsten Jahr verschieben, wenn wir Wachstum erleben werden. Dann werden zyklische Werte besser laufen. Deshalb haben wir in den vergangenen Monaten eher zyklische Qualitätswerte gekauft. Zudem investieren wir nur in Unternehmen, deren Geschäftstätigkeit und Rechnungslegung wir verstehen und nachvollziehen können. Wertpapiere von komplexen Konglomeraten, Aktien von Unternehmen mit niedriger Qualität – wie Wirecard – und sehr teuer bewertete Aktien – wie die von Tesla derzeit – findet man in unseren Portfolios nicht. Das Interview führte Kai Johannsen.