Zinsanstieg von historischer Dimension
Von Jörg Scherer *)
Die besondere Herausforderung des Investmentjahrgangs 2022 liegt nicht in der Schwäche der internationalen Aktienmärkte, sondern vielmehr darin, dass die dortigen Kursverluste von einem beispiellosen „Drawdown“ auf der Rentenseite flankiert werden. Wenngleich noch gut zwei Monate Wegstrecke vor uns liegen, laufen die Rentenmärkte Gefahr, das schwächste Jahr der Historie auf das Börsenparkett zu legen. Wie geht es weiter? Was sind die Konsequenzen? Welche Marken sollten Anlegerinnen und Anleger jetzt auf dem Radarschirm haben? Wir bringen etwas charttechnisches Licht in dieses Dunkel:
Da die USA auch auf der Rentenseite als Taktgeber fungieren, starten wir unsere Bestandsaufnahme dort. Wer zu Jahresbeginn einen derart dynamischen Zinsanstieg prognostiziert hätte, wäre von der Mehrheit der Investorinnen und Investoren sicher belächelt worden. Dabei kam es aus charttechnischer Sicht bereits im Januar zu einer bemerkenswerten Weichenstellung.
Trendwende als Urknall
Im Nachhinein muss die zu Jahresbeginn vervollständigte inverse Schulter-Kopf-Schulter-Formation im Verlauf der zehnjährigen Rendite in den Vereinigten Staaten als ein bemerkenswertes Warnsignal bezeichnet werden. Schließlich erwies sich dieses Umkehrmuster als der ultimative Katalysator des Zinsanstieges im weiteren Jahresverlauf. Mit dem Bruch des langfristigen Baissetrends seit Beginn der 1980er Jahre (aktuell bei 2,54%) und der Rückeroberung der langfristigen Glättung der letzten 200 Monate (aktuell bei 2,63%) folgten im Frühjahr weitere Ausrufezeichen historischen Ausmaßes. Besonders die Bedeutung des Bruchs des Abwärtstrends der letzten 40 Jahre kann nicht überschätzt werden. Zwei Investorengenerationen kennen nur diesen Trend der rückläufigen Renditen seit 1980! Deshalb war die Bezeichnung „Game Changer“ selten so berechtigt wie derzeit.
Fundamental verändert
Angelehnt an die Dow-Theorie lieferte die zehnjährige Rendite der Vereinigten Staaten zuletzt ein weiteres (aufwärts-)trendbestätigendes Signal. Gemeint ist der Spurt über das Junihoch bei 3,50%, denn höhere Hochs signalisieren stets einen intakten Aufwärtstrend. Selbst das wichtige Etappenziel in Form der Hochs bei rund 4% hat das Zinsbarometer mittlerweile passiert. Von 2001 bis 2010 hatte dieses Level immer wieder eine Rolle gespielt, und auch das Tief vom Oktober 1998 (4,10%) fällt in diesen Dunstkreis. Der Sprung über die angeführten Hürden liefert das Startsignal für den nächsten Renditeanstieg. Die Hochs der Jahre 2006 und 2007 bei 5,26/5,33% definieren dabei die nächste Zielzone. Aber auch unter Risikogesichtspunkten liefert der aktuelle Chartverlauf eine wichtige Hilfestellung: So markieren auf der Unterseite neben der runden 4-%-Marke in Zukunft die Hochpunkte bei 3,50% bzw. bei 3,26% markante Unterstützungen.
Im zweiten Schritt analysieren wir zusätzlich noch die Entwicklung im längerfristigen Laufzeitbereich, denn die Tragweite der historischen Trendwende des Jahres 2022 schlägt sich auch bei der 30-jährigen US-Rendite nieder. Hier hat der Zinsanstieg in den letzten Wochen sogar nochmals deutlich an Dynamik gewonnen. Der Spurt über die horizontalen Hürden bei 3,21%/3,26% erwies sich dabei als entscheidender Katalysator. Inzwischen hat das Zinsbarometer sogar das Kursziel aus der abgeschlossenen, inversen Schulter-Kopf-Schulter-Formation der letzten Jahre von 4,30% abgearbeitet. Das neue Verlaufshoch bei 4,42% – gleichbedeutend mit dem höchsten Stand seit 2011 – signalisiert weiterhin einen intakten Aufwärtstrend. In dessen Verlauf markiert das Hoch vom Februar 2011 bei 4,79 % das nächste Anlaufziel. In diesem Dunstkreis hat die 30-jährige Rendite zuvor bereits in den Jahren 2008, 2009 und 2010 wichtige Hochpunkte ausgeprägt. Danach definiert das Hoch vom Juni 2007 bei 5,44% einen weiteren Widerstand. Auf der Unterseite würde dagegen ein Rebreak der 2013er Hochs bei 4%/3,94% zumindest eine Pause in laufenden Zinsanstiegsszenario implizieren.
Bund-Future sucht Boden
Zum Abschluss kommen wir nach Deutschland und beleuchten die charttechnischen Perspektiven des Euro-Bund-Future. Auch hier kam es im Jahresverlauf 2022 zu einer Reihe von Verkaufssignalen – zuletzt in Form des Bruchs des Basisaufwärtstrends seit 1991 (auf Quartalsbasis aktuell bei 141,92). 30 Jahre alte Trends zu den Akten zu legen ist alles andere als alltäglich! So viel zur strategischen Einordnung. Mit der Kombination aus dem Tief vom September 2013 bei 136,60 und einem Fibonacci-Level (136,43) steht dem Zinsbarometer aktuell ein weiterer wichtiger Rückzugsbereich zur Verfügung. Gleichzeitig sorgt der extreme Kursverfall des Jahres 2022 für historisch überverkaufte Indikatoren. So notiert der Monats-RSI tief in seiner unteren Extremzone, während der trendfolgende MACD in diesem Zeitfenster sogar so tief wie niemals zuvor in der Historie seit Anfang der 1990er Jahre gefallen ist. Aus dieser Extremkonstellation ergibt sich möglicherweise ein kurzfristiger Rettungsanker, aber die Trendwenden des Jahres 2022 haben die langfristige Statik der Rentenmärkte nachhaltig verändert.
*) Jörg Scherer ist Leiter Technische Analyse bei HSBC Deutschland.