Zinssenkung lässt Brasiliens Börse kalt

Durchsetzung dringender Reformen aus Sicht des Aktienmarktes derzeit wichtiger

Zinssenkung lässt Brasiliens Börse kalt

Die zehnte Leitzinssenkung dieses Jahres auf ein rekordniedriges Niveau von 7 % ist am brasilianischen Aktienmarkt ohne große Begeisterung aufgenommen worden. Wichtiger aus Sicht des Marktes ist die Frage, ob Präsident Michel Temer noch die dringende Reform des Pensionssystems gelingt.Von Andreas Fink, Buenos AiresMit gebremstem Optimismus haben Brasiliens Finanzmärkte auf den historischen Schritt der Zentralbank reagiert. Deren Währungsausschuss senkte vorigen Mittwoch den Leitzins Selic um einen halben Punkt auf 7 %, das ist der niedrigste Wert seit dem Beginn der Zentralbankstatistik 1986. Es war bereits die zehnte Zinssenkung in Folge, noch im Januar hatte der Leitsatz bei 13 % gelegen. Überraschend kam die Lockerung jedoch nicht, tatsächlich spekulieren die Märkte auf eine weitere Senkung auf der nächsten zinspolitischen Sitzung im Februar. Inflation deutlich unter ZielDie Senkungsserie dieses Jahres wurde möglich durch einen außergewöhnlich starken Rückgang der Inflation im Jahresverlauf. Seit Januar sind die Preise in dem 205-Millionen-Einwohner-Land um lediglich 2,5 % gestiegen, bis Silvester dürfte die Gesamtteuerung in 2017 weniger als 3 % betragen. Das wäre deutlich unter dem offiziellen Inflationsziel von 4,5 %. In den vorangegangenen vier Jahren war die Marke zum Teil erheblich übertroffen worden.Nach dem Beschluss des Währungssauschusses bejubelte Präsident Michel Temer via Twitter eine “Folge der ökonomischen Maßnahmen unserer Regierung”. Die meisten Ökonomen erklären den Rückgang von Teuerung und Zinsen freilich vor allem mit klimatischen Effekten: Eine historische Rekordernte hatte ermöglicht, dass Lebensmittel um 6 % günstiger wurden. Weil eine Wiederholung dieses einzigartigen Effektes nicht wahrscheinlich ist, rechnen die meisten Marktteilnehmer damit, dass die Preise wieder kräftiger steigen. Die Zentralbank hat erneut 4,5 % als Ziel für 2018 formuliert, 2019 soll die Marke auf 4,25 % gesenkt werden, in der Folge werden 4 % angestrebt.Auf den rekordniedrigen Zinssatz reagierte die Börse in Sao Paulo ohne große Euphorie, etwa 1 % legte der Bovespa-Index zu. Diese verhaltene Zustimmung erklärte sich auch mit einer Koinzidenz: Fast zeitgleich mit der Zinssenkung war Donald Trumps Jerusalem-Beschluss bekannt geworden, was auch in Brasilien Befürchtungen nährte.Das große Abwarten gründet aber vor allem in der wohl zentralen wirtschaftspolitischen Frage der Regierung Temer: Kann Brasilien in den nächsten Wochen das ruinöse Pensionssystem doch noch reformieren? Brasilien leistet sich bislang eines der generösesten Rentensysteme des Planeten. Bislang gilt kein festes Eintrittsalter, weshalb sich viele Bürger schon mit Anfang 50 aufs Altenteil begeben. Die Versorgungsverpflichtungen des Staates waren Hauptauslöser der massiven Budgetdefizite der letzten Jahre. Sowohl 2015 als auch 2016 gab das Land 10 % mehr aus, als es einnahm. Das Rentensystem ist nach Ansicht sämtlicher Fachleute bereits heute unfinanzierbar, aber seine Zukunft sieht, wegen der auch in Brasilien zunehmenden Alterung, noch gefährdeter aus. In einer Vergleichsstudie von 68 Pensionssystemen hat Standard & Poor’s errechnet, dass kein Regelwerk der Welt toxischer ist als das brasilianische. Nicht mehr viel ZeitUm diese Bombe zu entschärfen, bleibt nicht mehr viel Zeit. Denn im Wahljahr 2018 dürften sich nicht mehr genügend Parlamentarier bereitfinden, für diese extrem unpopuläre Reform im Kongress zu votieren. Am zurückliegenden Freitag wurde nun bekannt, dass die Regierung ihr Reformpakt in der letzten Parlamentssitzung vor dem Jahreswechsel durchbringen will. Doch noch immer herrscht vor allem Skepsis, ob die erforderliche Mehrheit steht. “Seit etwa drei Wochen sehe ich die Chancen auf eine Reform sinken”, sagt Robert Indech, Chef-Analyst der Börsenmaklerfirma Rico Investimentos. “Momentan scheint es so, als fehlten der Regierung die notwendigen Stimmen.” Ähnlich sieht das auch Raphael Figueredo, Analyst bei Eleven Financial: “Der Markt rechnet damit, dass die Reform nicht durchkommt. Aber sollte es doch noch klappen, dann dürfte die positive Reaktion an der Börse wesentlich deutlicher ausfallen als eine negative im Falle eines Scheiterns.”Allerdings könnte ein Scheitern der Reform nun mittelfristig erheblichen Schaden verursachen, auch an den Börsen. Davor warnte kürzlich Moritz Kraemer, Global Chief Rating Officer von S & P Global. In einem Interview mit dem Medienriesen Globo beschrieb Kraemer die aktuelle Situation als “kritischen Moment”. S & P hat im September 2015 Brasilien das Investmentgrade entzogen, jetzt liegt das Land zwei Stufen niedriger bei “BB” – mit negativem Outlook. Ein Scheitern des Reformprojektes könnte eine weitere Senkung des Ratings bewirken.Sollte die Regierung ihre Reform nicht realisieren können, dann stünden auch die anderen wichtigen Neuregelungen der Regierung Temer in Frage, vor allem die in der Verfassung festgeschriebene Ausgabensperre. Darum verfolgen viele Investoren die Debatte um die Rentenneuregelung ganz genau. “Sollte die Regierung scheitern, könnte das der Markt einpreisen”, sagte Kraemer. Er befürchtet, dass sich das Zeitfenster allzu schnell schließen könnte und dass das Rentenproblem erst von einer neuen Regierung Mitte 2019 in Angriff genommen werden könnte. Wertvolle Zeit ginge verloren. Andererseits könnte die Annahme der Rentenpläne ein positives Signal für die Märkte sein.