Zweigleisig fahren und auf den Autosektor achten
Eine noch nicht ausgestandene Pandemie, nachlassende Unterstützung durch die Notenbanken und die Inflation weiter auf der Agenda – zwar gibt es eine realistische Chance, dass die Aktienkurse nach der Rally 2021 auch 2022 im weltweiten Schnitt noch einmal um 6 bis 8% zulegen. Doch angesichts der Vielzahl „beweglicher Teile“ dürfte die Zeit des leicht verdienten Gelds vorbei sein. Gerade als Treuhänder des Kapitals von Anlegern sollte man daher eine vorsichtige Strategie verfolgen.
Dabei geht es im Kern darum, auf zwei Szenarien vorbereitet zu sein: Entweder lassen Virus-Varianten, anhaltende Lieferengpässe und weiter steigende Rohstoff- und Energiepreise die Erholung der Weltwirtschaft zum Erliegen kommen, oder die Pandemie wird zur Endemie, der Inflationsdruck lässt nach, Angebot und Nachfrage bei wichtigen Zulieferteilen kommen wieder ins Gleichgewicht und das Wachstum nimmt deutlich an Fahrt auf. Ihren wichtigsten Ausdruck werden diese beiden Szenarien im Realzinsniveau finden. Daher ist es sinnvoll, ein Aktienportfolio anhand einer Hantelstrategie zu konstruieren. Konkret bedeutet dies, einerseits auf von niedrigen Zinsen begünstigte Wachstumswerte etwa aus dem US-Technologiesektor zu setzen, andererseits in von steigenden Renditen profitierende europäische Substanzaktien und Zykliker zu investieren. Das Mittelstück sollte analog zur Hantel-Metapher eher dünn besetzt sein.
Mit dieser Strategie vermeidet man zwar, auf das berühmte falsche Pferd zu setzen, vor mit Sicherheit steigender Volatilität und womöglich auch rasanter Sektorrotation wird aber auch dieser Ansatz nicht schützen. Wie drastisch sich schlechte Nachrichten zur Pandemieentwicklung auswirken, wenn die Notenbanken eine nachlassende geldpolitische Unterstützung nur angekündigt haben, konnten wir in den letzten Novembertagen 2021 beobachten. Und die Anfälligkeit der Märkte für solche negativen Überraschungen wird wohl nicht abnehmen, wenn Federal Reserve, Europäische Zentralbank & Co. tatsächlich straffen.
Und wenn schon das makroökonomische Umfeld herausfordernd ist, warum sollte es beim Bewertungsniveau anders sein. Schon in den vergangenen Wochen war zu beobachten, dass der Markt nicht mehr nur mit steigenden Umsätzen zufrieden ist, sondern jetzt auch eine entsprechende Gewinnentwicklung erwartet. Vor diesem Hintergrund hat man schon einige Corona-Gewinner links und rechts niedersinken sehen, bei denen sich das Ergebniswachstum nach dem von der Krise ausgelösten Vorzieheffekt deutlich abgeschwächt hat. Dieser Trend dürfte sich 2022 womöglich sogar noch verstärkt fortsetzen.
Skepsis für Halbleitersektor
Grund genug, auch den Aktien aus dem Halbleitersektor eine gewisse Skepsis entgegenzubringen. Zwar haben die Unternehmen 2021 von der gewaltigen Chip-Nachfrage und der damit einhergehenden Preissetzungsmacht profitiert. Mittlerweile lässt sich aber vor allem aus der Automobilindustrie vernehmen, dass sich die Verfügbarkeit von Halbleitern inzwischen wieder verbessert hat. Daher ist auch die Automobilindustrie ein Kandidat für einen 2022 womöglich die Erwartungen übertreffenden Sektor. Die sogenannten Premiumhersteller haben 2021 zwar 12 bis 25% weniger Fahrzeuge verkauft. Allerdings waren die Käufer bereit, hohe Preise zu zahlen, weshalb die Unternehmen unter dem Strich mehr Geld verdient haben. Sollten die Kunden 2022 weiter tief in die Taschen greifen und gleichzeitig wieder mehr Chips verfügbar sein, könnten nicht nur die Auslieferungen je nach gesamtwirtschaftlichem Szenario und Unternehmen zwischen 5 und 10% steigen, sondern auch die Gewinne noch einmal ordentlich zulegen.
Zu den Kandidaten für eine positive Überraschung gehört angesichts des gegenwärtigen Rohölpreises auch der Energiesektor. Schon 2021 hatten die Kurse der US-Unternehmen kräftig angezogen – anders als bei den Pendants in Europa, bei denen der steigende Rohölpreis durch eine steife ESG-Brise im Gesicht kompensiert wurde. Während die Chefs der Ölkonzerne in den USA die Gewinne an die Aktionäre weitergaben, investierten sie die Manager der großen europäischen Unternehmen in Wind- und Solarparks. Die Prioritäten mit Blick auf Anteilseigner, Klima und Gesellschaft sind auf den beiden Seiten des Atlantiks einfach sehr unterschiedlich. Das Ergebnis: Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse bei den Ölkonzernen aus den USA sind für 2022 teilweise doppelt so hoch wie bei den europäischen Unternehmen. Vor diesem Hintergrund könnten einige Investoren zu der Einschätzung gelangen, dass das Bewertungsniveau in Europa nun doch etwas zu niedrig ist.
Störfeuer von der Preisseite halten wir für 2022 dabei für eher unwahrscheinlich. Denn trotz des jüngsten Beschlusses der Opec plus, die Fördermenge auszuweiten, ging es mit dem Rohölpreis unmittelbar danach nach oben. Ein Anzeichen dafür, dass der Markt nicht mit einer deutlichen Verlangsamung der Nachfrage durch die Omikron-Variante rechnet und der Ölmarkt auch 2022 sehr eng sein dürfte. Hinzu kommt das strukturelle Bild aus seit Jahren sinkenden Investitionen in dem Sektor bei einer gleichzeitig kontinuierlich steigenden Netto-Nachfrage. Und noch ein weiterer Aspekt könnte den Ölkonzernen in die Karten spielen: In Zeiten steigender Zinsen schaut der Markt auch zunehmend darauf, wo hohe Cash-flow-Renditen zu finden sind.
Apropos steigende Zinsen – die haben in den USA bereits dazu geführt, dass die Bewertung der Banken so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr ist. Allerdings haben die Institute 2021 auch so viel an Einlagen eingesammelt wie selten zuvor und gleichzeitig sehr wenige Kredite ausgereicht. Damit sitzen viele Banken auf einem Berg aus Cash. Können sie den höher rentierlich anlegen, hat das nicht nur eine große Bedeutung für die Gewinnentwicklung, sondern natürlich auch für das Bewertungsniveau. Damit ist der Sektor aber so etwas wie der ultimative Call auf eine positive Überraschung bei der Dynamik der wirtschaftlichen Erholung sowie auf weiter steigende Zinsen.
Wer es etwas ruhiger haben möchte, mag sich den Sektor für Nahrungsmittel und Getränke etwas genauer ansehen. Dort könnten sich nämlich die Bierbrauer als Profiteure der Wiedereröffnung des gesellschaftlichen Lebens erweisen und positiv überraschen. Denn die Marge bei dem in Restaurants und Bars ausgeschenkten Bier ist deutlich höher als beim in den eigenen vier Wänden getrunkenen Gerstensaft.
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