Grossbritannien

Auf dem Weg in den General­streik

Absentismus, absurde Lohnforderungen und rücksichtslose Streiks – Großbritannien ist auf dem Weg zurück in die 1970er Jahre. Seine Regierung hat offenbar den Willen zum Regieren verloren.

Auf dem Weg in den General­streik

Abwesend, nicht zu erreichen oder nicht zuständig – von öffentlichem Dienst im Sinne von Dienst an der Öffentlichkeit konnte in Großbritannien in den vergangenen Jahren kaum noch die Rede sein. Leo Tolstoi schrieb einst, das Selbstbewusstsein der Engländer beruhe darauf, Bürger des bestorganisierten Landes der Welt zu sein. Doch die Zeiten, in denen der Civil Service als der Rolls-Royce unter den Verwaltungen galt, sind lange vorbei. Weite Teile der Beamtenschaft verabschiedeten sich nach Ausbruch der Pandemie ins Homeoffice, wo sie endlich einmal Zeit fanden, den Garten auf Vordermann zu bringen oder ihre Kinder besser kennenzulernen. Viele kehrten bis heute nicht zurück. Wozu das führt? Nur zwei Highlights: Beim Zusammenbruch Afghanistans waren im Außenministerium einem Whistleblower zufolge keine Beamten im Haus, als zahllose E-Mails von verzweifelten Menschen eingingen, die für die britischen Truppen oder andere Einrichtungen gearbeitet hatten und um ihr Leben fürchteten. Ihre Hilferufe versendeten sich. Im Schatzamt hielt man es wiederum nicht für nötig, Covid-Hilfen im Umfang von mehreren Milliarden Pfund wieder einzutreiben, die von Betrügern abgegriffen wurden. Lange nach der Brandkatastrophe von Grenfell leben immer noch Tausende von Menschen in Wohntürmen, in deren Fassaden brandgefährliche Materialien stecken. Schuld sind immer die anderen. Das Innenministerium zeigt mit dem Finger auf die Polizei. Das Gesundheitsministerium verweist auf den National Health Service (NHS). Was in den vergangenen Jahren gelaufen ist, stellt alle bisherigen Skandale des Civil Service in den Schatten.

Nun kommen absurde Lohnforderungen und rücksichtslose Arbeitskampfmaßnahmen der Angestellten des öffentlichen Dienstes hinzu. Großbritannien ist auf dem Weg zurück in die 1970er Jahre. Das Royal College of Nursing verlangt 19 % mehr Lohn für Krankenschwestern. Man hält offenbar den richtigen Zeitpunkt für gekommen, die Reallohnverluste seit der Finanzkrise in einem Satz aufzuholen. Die Eisenbahnergewerkschaft RMT lehnte gerade die von den Arbeitgebern gebotenen 8 % mehr Lohn ab. Das Land steht vor einem Generalstreik. Er heißt offiziell zwar nicht so, aber die beteiligten Gewerkschaften koordinieren ganz offensichtlich ihre Streiks, um den größtmöglichen Effekt zu erzielen. An der Spitze der Arbeitnehmervertretungen stehen alte Kämpen wie Mike Lynch, denen es nicht allein um Lohnforderungen geht, sondern darum, die Regierung aus dem Amt zu jagen. Nun rächt sich die unverdiente Heiligsprechung des NHS während der Pandemie. Hätte sich Boris Johnson nicht zum Schutzpatron des maroden Gesundheitswesens ernannt, wäre es nun leichter, Selbstbedienungsmentalität und überzogenen Forderungen seiner Mitarbeiter entgegenzutreten.

Doch die derzeit amtierende Regierung hat offenbar den Willen zum Regieren verloren. Sie hat das Geld nicht, das von ihr verlangt wird, und ahnt, dass sie Labour schon bald die Schlüssel zu 10 Downing Street übergeben muss. Bis dahin müssen eben Soldaten einspringen, wenn Grenzschützer oder Rettungswagenfahrer streiken. Militärangehörige halfen während der Pandemie bereits bei der Impfkampagne und als Fahrer von Tanklastwagen aus. Dabei wäre es so einfach, Sand ins Getriebe der Propagandamaschine der renitenten Gewerkschaften zu streuen. Es war doch klar, dass irgendwann die Rechnung für die großzügige Kurzarbeitsregelung während der Pandemie kommen würde. Die Reaktion der Finanzmärkte auf die von Liz Truss angestrebte unbegrenzte Deckelung der Energiekosten der privaten Haushalte hat gezeigt, dass soziale Wohltaten nicht weiter auf Kredit finanziert werden können. Die Eisenbahner haben nur deshalb noch ihre Jobs, weil der Staat ihre Arbeitgeber während der Pandemie mit Milliardensubventionen über Wasser hielt. Ein wenig Zu­rück­haltung wäre also angezeigt, zumal die Auslastung der Züge weit von den vor der Pandemie üblichen Werten entfernt ist. Wenn sich Postboten zugutehalten, während der Pandemie gearbeitet zu haben, ist der Hinweis angebracht, dass Fahrer von Supermarktketten und Lieferdiensten das auch taten – zu schlechteren Konditionen und ohne ständig dafür gepriesen zu werden. Anders als in staatlichen Schulen ging an den privaten der Unterricht weiter.

Das rabiate Vorgehen der öffentlich Bediensteten wird für noch mehr Unmut über die steigenden Lebenshaltungskosten in der Bevölkerung sorgen und das Land dem Zustand der Unregierbarkeit näher bringen.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.