Chinas Corona-Politik wackelt
nh Schanghai
Eine aufsehenerregende Protestwelle gegen die rigorose Corona-Politik stellt Regierung und Kommunistische Partei in China vor die härteste politische Bewährungs- und Machtprobe seit Jahrzehnten. Immer mehr steht in Frage, ob und wie der Machtapparat an seiner sogenannten Null-Covid-Strategie festhalten kann. Am Wochenende hatte sich eine für chinesische Verhältnisse völlig ungewöhnliche Form zivilen Ungehorsams manifestiert und simultan in Dutzenden von Protestzügen und Mahnwachen in einer Reihe von Großstädten entladen. Dadurch ist aus Sicht politischer wie wirtschaftlicher Beobachter eine Situation entstanden, die den Pekinger Machtapparat vor Entscheidungszwänge stellt, deren wirtschaftliche und politische Konsequenzen extrem schwer absehbar sind.
Vor zwei Wochen hatte die chinesische Regierung mit der Ankündigung, rigide Vorgaben zu lockern, Hoffnungen in der Bevölkerung geweckt, dass exzessive Corona-Restriktionen auf Lokalebene zurückgefahren werden könnten und ein pragmatischeres Regelwerk greifen wird, das auf die Lebensbedürfnisse mehr Rücksicht nimmt. Anzeichen solcher Lockerungen zeigten sich allerdings im Zuge rasch steigender Corona-Fallzahlen als trügerisch. Das sorgte für Verwirrung.
Auch Beobachter verwirrt
Nachrichten von einem Hochhausbrand in Urumqi, der seit mehreren Monaten fast vollständig abgeriegelten Hauptstadt der Provinz Xinjinag mit zehn Toten, brachten die Situation zum Kippen und lösten Proteste vor Ort aus. Die Menschen machten unter anderem Corona-bedingte Straßensperrungen verantwortlich, dass Rettungsarbeiten behindert worden seien, und forderten das Ende des Lockdowns. Die Vorgänge in Urumqi hatten auf Chinas sozialen Medien einen Entrüstungssturm entfacht, der entgegen allen Erwartungen und bisherigen Erfahrungen dann auch zu Protesten in besonders prosperierende Großstädte wie Peking, Schanghai, Nanjing und Chengdu führte, was für international hohe Aufmerksamkeit sorgt.
Peking steht nun vor der neuen Situation, dass die Verzweiflung über die fehlgeleitete Corona-Politik gerade auch Bürger mit gehobenem Bildungsstand und wirtschaftlichem Einkommen auf die Straße treibt und unter der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung zu politischen Veränderungen aufrufen lässt. An den Märkten und bei China-Ökonomen herrscht nun erst recht Konfusion darüber, wie die veränderte Stimmungslage mit einem manifesten Vertrauensentzug von Wanderarbeitern bis zur Bildungselite auf Chinas Corona-Regime und damit auch die Wirtschaftspolitik abfärben wird.
Tatsache ist, dass aufkeimende Hoffnungen einer konjunkturschonenderen Corona-Politik und der Aussicht auf einen graduellen Ausstieg aus der mit extremen Mobilitätsrestriktionen verbundenen Null-Covid-Strategie durch höhere Fallzahlen und sofortiges Wiederanziehen von Restriktionen und Quarantäne völlig konterkariert worden sind. Dennoch gehen Analysten davon aus, dass das Land im Prinzip auf einen Ausstieg aus der Null-Covid-Politik zusteuert. Sie erwarten allerdings, dass der Übergang zu gelockerten Restriktionen auf Lokalebene zu chaotischen und widersprüchlichen Maßnahmen führen wird, aus denen sich noch über Monate hinweg keine klare Stoßrichtung erkennen lassen dürfte. Daher dürfte die an den Märkten euphorisch gefeierte Chance auf eine rasche Konjunkturerholung auf sich warten lassen.
In einer Research-Notiz der US-Investmentbank Goldman Sachs heißt es, China könne seine Null-Covid-Politik vor April und damit früher als erwartet beenden. Bislang war man davon ausgegangen, dass auf dem chinesischen Volkskongress im März, mit dem auch der förmliche Wechsel zu einer neuen Regierungsmannschaft im Fünfjahres-Turnus stattfindet, die Weichen für eine veränderte Corona-Politik gestellt würden, die dann im Frühjahr zu greifen beginnen könnte. Angesichts der jüngsten Proteste sei es nun wahrscheinlicher, dass es zu einem „ungeordneten“ Ausstieg aus Null-Covid kommen werde, was seinerseits gegen einen überzeugenden Aufschwung in der ersten Jahreshälfte 2023 spreche.