Lieferdienste

Der Langsame hat den längeren Atem

Während der Corona-Pandemie wurden die Express-Lieferdienste mit Risikokapital überschüttet. Doch die Geschäftsmodelle sind kaum profitabel zu kriegen. Investoren müssen umdenken.

Der Langsame hat den längeren Atem

Nach langwierigen Verhandlungen rettet sich Gorillas in die Arme von Getir. Der türkische Schnelllieferdienst übernimmt den vor zweieinhalb Jahren gegründeten Konkurrenten aus Berlin, der in Rekordgeschwindigkeit zum Einhorn – einem Start-up mit einer Bewertung von mehr als 1 Mrd. Dollar – aufstieg. Das berechtigt zu der Hoffnung, dass zumindest ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze erhalten bleibt. Ohne Übernahme hätte Gorillas wohl das Aus gedroht. Zu hoch war der Cashverzehr infolge der anhaltend hohen Verluste.

Folgen hat die Transaktion zunächst vor allem für Flink. Der Hauptkonkurrent hat es nun mit einem größeren und internationaler aufgestellten Verbund zu tun. Für die Branche insgesamt markiert die Transaktion den Übergang in eine Phase der rigorosen Marktbereinigung. Diverse Anbieter haben den Markt bereits verlassen. Die Übriggebliebenen stehen vor einer weiteren Konsolidierung. Der durch billiges Geld und die Corona-Pandemie entfachte Hype ist Geschichte. Investoren sind nicht mehr ohne Weiteres bereit, hochdefizitäre Geschäftsmodelle zu alimentieren. Ihre Risikoaversion hat zugenommen. Den E-Food-Unternehmen fehlt nun das Kapital, um ihre Expansion fortzusetzen. Ohnehin hat sich das Wachstum zuletzt bereits stark abgeschwächt. Standortschließungen und Entlassungen verschaffen nur eine Atempause. Sie senken die Kosten, schmälern aber die nach wie vor zu niedrige Umsatzbasis.

So mancher Investor muss sich eingestehen, dass er einer teuren Fehleinschätzung aufgesessen ist. Geblendet vom Wachstumspotenzial haben Geldgeber die operativen Herausforderungen des Expresskonzepts unterschätzt. Kritiker sprechen von einem Armageddon für Finanzinvestoren. Die Idee war, mit der Anmietung kleiner Lagerflächen und der Anstellung billiger Fahrradkuriere die angrenzenden Straßenzüge in Windeseile mit Waren zu versorgen. Doch dieser Asset-light-Ansatz geht nicht auf: Die Kunden bestellen einfach zu wenig, um das Geschäftsmodell in schwarze Zahlen zu bringen. Denn in den Minilagern kann man nur ein sehr überschaubares Warensortiment unterbringen. Bei Warenkörben von grob 20 Euro ist es praktisch unmöglich, profitabel zu wirtschaften.

Zu hoch sind die Kosten für das Umpacken der Ware und für die Auslieferung. Am ehesten dürften Essensdienste wie Delivery Hero in der Lage sein, das Turbogeschäft erfolgreich zu betreiben. Denn die Auslieferung von Restaurantgerichten und die von Fertigprodukten liegen vom Geschäftsmodell her nah beieinander. Essensdienste können ihr angestammtes Know-how auch im Verkauf von Supermarktartikeln und anderen Waren nutzen. So entstehen Netzwerkeffekte in der Steuerung der Rider und der Routenplanung. Im Marketing ergeben sich ebenfalls Synergien, etwa durch Nutzung bestehender Kundendateien. Doch selbst unter diesen Voraussetzungen ist es herausfordernd, mit Expresslieferungen Geld zu verdienen. Delivery Hero etwa schreibt im sogenannten Quick Commerce nach wie vor tiefrote Zahlen. Dabei ist der Konzern vorzugsweise in Südostasien, Nordafrika/Naher Osten und Südamerika unterwegs – Regionen, in denen oft kein so extremer Wettbewerb herrscht.

Den von Investoren favorisierten Express-Lieferdiensten bleibt letztlich nur die Rolle von Nischenanbietern in Großstädten. Sie bedienen den spontanen Bedarf einer digital­affinen Kundschaft. Früher fuhr man für solche Einkäufe zur Tankstelle. Den größten Teil des bisher in Deutschland kaum erschlossenen E-Commerce-Markts mit Lebensmitteln werden anders gelagerte Geschäftsmodelle auf sich ziehen. Bessere Chancen haben Lieferdienste, die wie Knuspr mit Zeitfenstern von mehreren Stunden arbeiten oder wie Picnic nach dem Milchmann-Prinzip funktionieren, also Kunden zu vorher festliegenden Zeiten anfahren.

Diese Unternehmen haben zwei Vorteile: Zum einen können sie das längere Zeitfenster nutzen, um Bestellungen zu kombinieren und die Routenplanung zu optimieren. Das macht die Auslieferung effizienter. Zum anderen verfügen sie über erheblich größere Sortimente als die Turbodienste und verkaufen darüber hinaus regionale und frische Lebensmittel. Das Angebot reicht in der Regel aus, um den Wocheneinkauf zu erledigen. Die Folge ist, dass Kunden viel mehr Geld pro Bestellung ausgeben. Ein hoher durchschnittlicher Auftragswert ist der Schlüssel zum profitablen Betrieb. Aufgrund der Kapitalbindung haben Risikokapitalgeber diese Geschäftsmodelle lange eher skeptisch gesehen. Nun müssen sie umdenken. Geschwindigkeit ist im E-Commerce nicht alles. Wer es langsamer angehen lässt, steht häufig besser da.

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