Die neue Volatilität der Sparkassen-Bilanzen
Ob John F. Kennedy den Wunsch, jemand möge in interessanten Zeiten leben, in seiner Antrittsrede als US-Präsident zu Recht den Chinesen zugeschrieben hat, ist umstritten. Fest steht jedoch, dass es sich um alles andere als einen freundlichen Wunsch handelt. Nicht wenige Menschen, die sich in den Gesamtbanksteuerungsabteilungen der Sparkassen-Finanzgruppe in den vergangenen Monaten mit der Erstellung der Bilanz befasst haben, dürften sich gewünscht haben, dass das Jahr 2022 einen etwas weniger spektakulären Verlauf genommen hätte. Denn plötzlich war sie da, die Zinswende.
Nachdem Sparkassen-Funktionäre, Kreditgenossen und Vertreter des privaten Bankgewerbes in ungewohnter Einigkeit das aus ordnungspolitischer Sicht, natürlich aber auch mit Blick auf die eigene Abhängigkeit von den Zinserträgen als unverantwortlich charakterisierte geldpolitische Laisser-faire gegeißelt hatten, zog die Europäische Zentralbank (EZB) unerwartet beherzt die Zügel an. Das sorgte für einen Preisverfall historischen Ausmaßes an den Anleihemärkten, die als Hauptbezugsquelle für die als Depot A bezeichnete Eigenanlage der Sparkassen dienen.
Konservative Anlagestrategie
Angesichts der in der Regel eher langfristig orientierten Geschäftspolitik der Sparkassen wäre das eigentlich halb so schlimm. Die öffentlich-rechtliche Säule des Kreditgewerbes steht schließlich nicht in dem Ruf, ihre Rendite durch Investments im Hochzinssegment in die Höhe zu treiben. Auch Aktien sind dem Depot A bestenfalls in kleinen Dosen beigemischt, da sich die der Anlageklasse eigenen Kursschwankungen schlecht mit dem Selbstverständnis der Sparkassen als konservative Anleger verträgt. Wie Sparkassen-Präsident Helmut Schleweis am Montag in einem Interview der Nachrichtenagentur Bloomberg sagte, bewegt sich der Aktienanteil im Depot A im niedrigen einstelligen Prozentbereich.
Trotzdem förderten die Bilanzen in den vergangenen Wochen zum Teil erschreckendes zu Tage. Die 43 im Ostdeutschen Sparkassenverband zusammengeschlossen Sparkassen etwa mussten nach eigenen Angaben Wertberichtigungen in Höhe von 1,42 Mrd. Euro vornehmen. Die Abschreibungen im Wertpapiergeschäft lagen damit rund 100 Mill. Euro über dem Betriebsergebnis vor Bewertung (vgl. BZ vom 21. Februar). Der 50 Mitglieder zählende Sparkassenverband Westfalen-Lippe schrieb mit 668 Mill. Euro mehr ab als im Finanzkrisenjahr 2008. Zuvor hatten bereits die 50 Sparkassen im Ländle hohe Abschreibungen von fast 1 Mrd. Euro publik gemacht und Risikovorsorge von 170 Mill. Euro gebildet. Was ist da schiefgelaufen? Steht nun etwa der als grundsolide geltende Sparkassensektor unter Wasser?
Unglückliches Timing
Wohl eher nicht. Tatsächlich ist die rote Flut in den Sparkassen-Bilanzen auch einem mehr als unglücklichen Timing geschuldet. Denn ausgerechnet für das Jahr, in dem die Anleihekurse wegen der steigenden Zinsen auf Talfahrt gehen, sind die Sparkassen gezwungen, die Pauschalwertberichtigungen nach einem neuen Ansatz zu berechnen, mit dem das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) den Bilanzierungsstandard nach Handelsgesetzbuch (HGB) näher an den Internationalen Finanzierungsstandard IFRS gerückt haben.
Im Kern geht es bei der unter dem sperrigen Kürzel RS BFA 7 vorgegebenen Vorgehensweise darum, nicht wie bisher historische Ausfallquoten als Berechnungsgrundlage hinzuzuziehen, sondern die zu erwarteten Verluste unter der Berücksichtigung der aktuellen Risikosituation und zukünftiger Ausfallerwartungen. Das entspricht der Logik des Bilanzierungsstandards IFRS 9, der erstmals für das Geschäftsjahr 2018 befolgt werden musste.
Institute, die wie etwa die beiden privaten Großbanken nicht bloß einen HGB-Bericht veröffentlichen, sondern auch nach IFRS berichten, um Investoren einen internationalen Vergleich zu ermöglichen, haben die Berechnungsgrundlage der Einfachheit halber oftmals zeitgleich eingeführt. Für die Sparkassen, die sich seit der Finanzkrise gerne als Fels in der Brandung der deutschen Finanzbranche gerieren, stellt die aus der Neuregelung resultierende Volatilität der Gewinn-und-Verlust-Rechnung dagegen eine Zäsur dar.
Vor diesem Hintergrund sah sich der Fachausschuss des IDW im November genötigt, in einem „fachlichen Hinweis“ klarzustellen, dass es Banken und Sparkassen nicht gestattet ist, sich der aus Buchverlusten resultierenden Ergebnisbelastung zu entziehen, indem sie den Anleihebestand vom Umlaufvermögen oder der Liquiditätsreserve ins Anlagevermögen umbuchen. Dort müssen Preisänderungen nicht abgebildet werden, vorausgesetzt, sie sind allein der Zinsänderung geschuldet und die Anleihen werden bis zum Ende der Laufzeit gehalten.
Zweckbestimmung relevant
„Die Zuordnung von Finanzinstrumenten zum Anlagevermögen, zum Handelsbestand oder zur Liquiditätsreserve folgt ihrer Zweckbestimmung beim Bilanzierenden“, heißt es in der Publikation der Standardsetzer. Eine Zuordnung von Wertpapieren zum Anlagevermögen sei nur dann möglich, wenn die Institute sie unter keinen Umständen brauchen, um ihre Zahlungsbereitschaft aufrechtzuerhalten. Vor dem Hintergrund der unsicheren konjunkturellen Lage, aber auch der infolge der Zinswende einsetzenden Jagd auf Kundeneinlagen dürfte der Handlungsspielraum der Sparkassen jedoch begrenzt gewesen sein. Den Sparkassen-Granden bleibt daher nichts anderes übrig, als die Abschreibungen vorzunehmen und darauf zu verweisen, dass mit dem Auslaufen der Fälligkeiten wieder andere Zeiten kommen werden. Auf die Abschreibungen können auch Zuschreibungen folgen.