Eine Frage der Glaubwürdigkeit
In einem Punkt herrscht in der in Finanzfragen so oft zerstrittenen EU heute wohl Einigkeit: Die Haushalts- und Schuldenregeln müssen dringend reformiert werden. Bei nahezu jedem Realitätscheck fällt der Stabilitäts- und Wachstumspakt nämlich mittlerweile durch: Die Schulden steigen immer weiter an. In der Eurozone liegen wir in diesem Jahr im Schnitt bei einer Staatsverschuldung von 95% der Wirtschaftsleistung. Eigentlich sollten es ja nicht mehr als 60% sein. In guten Jahren werden trotz eines umfangreichen, komplizierten Regelwerks keine Puffer aufgebaut. Die vorgegebenen Abbaupfade sind nicht nur bei den sieben Euro-Ländern mit Schuldenquoten oberhalb von 100% kaum oder gar nicht zu erfüllen. Die Regeln haben sich als investitionsfeindlich erwiesen. Und es gelingt überhaupt nicht, sie vernünftig durchzusetzen.
Die Vorschläge, die die EU-Kommission hierzu nun vorgelegt hat, bieten vor diesem Hintergrund einige interessante Impulse für eine tiefgreifende Reform – auch wenn man ihnen zum Teil anmerkt, dass die Brüsseler Behörde versucht, in einem Spagat alle Denkrichtungen in einem großen Kompromiss zusammenzubringen. Es geht im Wesentlichen um einen Fünf-Punkte-Plan: Die einjährigen Haushaltszyklen werden aufgebrochen und durch mehrjährige Planungsphasen ersetzt, was insbesondere Investitionen erleichtern soll. Die Mitgliedstaaten erhalten eine stärkere Eigenverantwortung beim Schuldenabbau. Individuell ausgehandelte Budgetpläne ersetzen den bisherigen One-size-fits-all-Ansatz, wobei drei Gruppen von unterschiedlich hoch verschuldeten Ländern unterschiedlich strenge Vorgaben erhalten. Im Zuge einer radikalen Vereinfachung gilt künftig nur noch eine Ausgabenkennzahl als Richtwert, die von den Regierungen gut steuerbar ist. Und schließlich soll die Einhaltung der Regeln viel besser durchgesetzt werden.
Jeder einzelne dieser fünf Punkte könnte den heutigen Stabilitäts- und Wachstumspakt effizienter und realistischer machen und würde auf jeden Fall der Diskussion lohnen. Und doch gelingt es der EU-Kommission nicht, mit ihrem neuen Konzept vollends zu überzeugen. Dies liegt zum einen daran, dass die Behörde in den vergangenen Jahren mit ihrer flexiblen Auslegung der Budgetregeln einiges an Glaubwürdigkeit verspielt hat. Obwohl die Regeln immer wieder gebrochen wurden, hat sich die Kommission im Endeffekt nie zu irgendwelchen Sanktionen durchringen können. Die Ermessensspielräume, die sie im neuen Rahmen bei der Aufstellung der nationalen Anpassungspfade und ihrer Überwachung erhalten soll, machen daher gleich misstrauisch. Besser wäre, hier eine unabhängige Institution einzubinden, was aber nicht so einfach ist. Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), der hierfür sicherlich die Kompetenzen und die nötige Reputation an den Märkten hätte, würde von Ländern wie Italien nicht akzeptiert werden. Und der immer wieder – auch in Berlin – genannte Europäische Fiskalrat hätte derzeit gar nicht die Strukturen, um eine solche Aufgabe zu übernehmen.
Die auf vier Jahre ausgelegten nationalen Ausgaben- und Schuldenabbaupläne, die sogar auf bis zu sieben Jahre ausgedehnt werden können, haben außerdem eine viel zu lange Laufzeit. Die jeweiligen Regierungen sind beim Aufstellen dieser Pläne in einer komfortablen Situation, in der sie viel versprechen können, ohne zu wissen, ob sie am Ende überhaupt noch im Amt sind und dann eine fiskalpolitische Verantwortung übernehmen müssten. Dass die jährlichen Zwischenberichte eine disziplinierende Wirkung entfalten, ist kaum zu erwarten. Hinzu kommt: Die Maastricht-Kriterien sollen zwar auch künftig offiziell gelten. Aber zumindest die 60-Prozent-Schuldenobergrenze spielt im Kommissionskonzept praktisch keine Rolle mehr. Von hoch verschuldeten Staaten wird allenfalls noch verlangt, dass die Verschuldung „auf einen Abwärtspfad“ gebracht wird. Natürlich: Die heutigen Vorgaben zum Schuldenabbau in Richtung 60% über die sogenannte 1/20-Regel funktionieren nicht mehr. Es fehlen aber Alternativen, um die heutigen Schuldenquoten nicht als das neue Normal hinzunehmen.
Es dürften also noch einige Nachbesserungen nötig sein, sollte ein „risikobasierter EU-Überwachungsrahmen“ tatsächlich der neue Stabilitäts- und Wachstumspakt werden können. Vor allem muss in dem Konzept dann die versprochene bessere Durchsetzung der Regeln überzeugender ausgestaltet werden. Ansonsten wird die Kröte der individuell ausgehandelten Schuldenpläne wohl von vielen Ländern nicht geschluckt. Viel Zeit bleibt dafür aber nicht mehr: Bevor Anfang 2024 die derzeit ausgesetzten Budgetregeln wieder in Kraft gesetzt werden, sollte die Reform umgesetzt sein.