Unterm Strich

Lohn-Preis-Spirale: Gefahr gebannt

Die jüngsten Tarifabschlüsse in Deutschland ermöglichen der EZB eine konsequente Inflationsbekämpfung ohne die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale.

Lohn-Preis-Spirale: Gefahr gebannt

Christine Lagarde hätte sich bei ihrem Auftritt beim European Banking Congress am Freitag in Frankfurt ruhig einmal bei den Verhandlungsführern von Ge­samtmetall und IG Metall bedanken dürfen. Denn der nach Warnstreiks und harten Verhandlungen in der Nacht zum Freitag gefundene Pilotabschluss für die knapp vier Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie dürfte die EZB-Präsidentin vor einer in Deutschland aus dem Ruder laufenden Inflation bewahren.

Die Tarifeinigung kann trotz ihrer beachtlichen Höhe als Reaktion mit Augenmaß auf die galoppierende Inflation bezeichnet werden. Die Gefahr einer die Inflation noch befeuernden Lohn-Preis-Spirale in der größten Volkswirtschaft der Eurozone ist damit wohl vorerst gebannt. Das war nach der ursprünglichen Forderung der IG Metall mit einer 8 vor dem Komma bei zwölfmonatiger Laufzeit nicht unbedingt zu erwarten. Doch hatte der bereits zuvor für die Chemiebranche vereinbarte Tarifabschluss einen Weg gewiesen, wie der inflationsbedingte Kaufkraftverlust begrenzt werden kann, ohne zugleich die unter den Energiepreisen ächzende Industrie zu überfordern.

Zwar hatte die IG BCE (Bergbau, Chemie und Energie) die Tarifsteigerung als größten Abschluss seit 30 Jahren gefeiert und auch die IG Metall klopft sich nun kräftig auf die Schulter ob des Erreichten. Die Erfolgsgefühle seien ihnen vergönnt nach den Zumutungen der Teuerung, die für viele Arbeitnehmer gefühlt wesentlich stärker ausfällt als statistisch ermittelt. Doch verteilt auf die 24-monatige Laufzeit nehmen sich die steuerfreien Einmalzahlungen von 3000 Euro sowie die Erhöhungen um 5,2% zum Juni 2023 und 3,3% ab Mai 2024 in der Metall- und Elektroindustrie nicht mehr so spektakulär aus. In der Chemie waren neben den 3000 Euro Einmalzahlung jeweils 3,25% Anfang 2023 und Anfang 2024 bei 20 Monaten Laufzeit vereinbart worden.

Auf alle Schultern verteilt

Unterm Strich bedeuten die Tarifabschlüsse, dass die Lasten des Wohlstandsverlusts auf alle Schultern verteilt werden. Anders als bei früheren Tarifrunden ging es dieses Mal ja nicht um eine Umverteilung von oben nach unten und um angemessene Teilhabe der Arbeitnehmer an den von ihnen erwirtschafteten Unternehmensgewinnen und Produktivitätssteigerungen. Jetzt ging und geht es darum, wie der von den exogenen Schocks ausgelöste Wohlstandsabfluss an das Ausland im Inland verteilt wird, ohne den sozialen Frieden zu gefährden und die drohende Rezession zu verschärfen.

Die in diesen Tagen veröffentlichten Quartalszahlen großer Industriekonzerne sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele kleinere und mittlere Unternehmen mit dem Rücken zur Wand stehen. Sie haben oft nicht die Marktmacht, gestiegene Rohstoff- und Energiepreise an die Kunden weiterzureichen. Für diese Unternehmen ist es angesichts der Unsicherheit über die Entwicklung von Energie- und Rohstoffpreisen ein Vorteil, wenigstens die Lohnkosten für die nächsten zwei Jahre verlässlich kalkulieren zu können.

Allerdings darf man nicht vergessen, dass in der Industrie je nach Branche die Lohnkosten oft nur zwischen 10 und 30% der Gesamtkosten ausmachen und in vielen Fällen die Energiekosten stärker zu Buche schlagen. Nicht Rationalisierungen und Personaleinsparungen werden bei vielen Unternehmen deshalb künftig den Fortbestand oder das Gewinnpotenzial definieren, sondern energieeffiziente Technologien und Prozesse.

Chance für die EZB

So schmerzhaft die inzwischen zweistelligen Inflationsraten für Verbraucher auch sind – ein Tarifabschluss mit vollem Inflationsausgleich hätte die Geldentwertung verschärft und perpetuiert. Die Einmalzahlungen und die Erhöhungen im Jahr 2024 mit einer 3 vor dem Komma sorgen dafür, dass die Inflationsbekämpfung durch die Europäische Zentralbank bei konsequenter Fortführung eine Erfolgschance hat und nicht durch eine Lohn-Preis-Spirale von vornherein zunichte gemacht wird. Die für 2024 vereinbarten Lohnsteigerungen bleiben in einer Größenordnung, die sich als Summe aus dem Produktivitätswachstum von 1 bis 1,5% und der Zielinflationsrate der EZB von 2% erklären lässt. Diese krisengerechte Zurückhaltung der Tarifpartner darf aber nicht enttäuscht werden. Umso wichtiger ist es nun, dass die EZB ihre viel zu spät begonnene Inflationsbekämpfung konsequent fortsetzt und nicht nur die Zinsen so lange erhöht, bis sich wieder ein positiver Realzins errechnet, sondern auch umgehend ihre durch Anleihekäufe aufgeblähte Bilanz verschlankt.

Das dicke Ende

Für die EZB sind die jüngsten Tarifabschlüsse so wertvoll, weil sie die Inflationserwartungen zumindest hierzulande einbremsen dürften. Denn die zuletzt mit 45% extremen Erzeugerpreissteigerungen – die höchsten seit ihrer Erfassung im Jahr 1949 – lassen bei den Verbraucherpreisen in Deutschland das dicke Ende erst noch erwarten. Vor diesem Hintergrund kommt den langen Laufzeiten der jüngsten Tarifverträge von 24 beziehungs­weise 20 Monaten eine große Bedeutung zu.

Die Notenbank erhält damit die Gelegenheit, trotz des üblichen Timelags geldpolitischer Maßnahmen ihre Glaub­würdigkeit und die Wirksamkeit ihrer Inflationsbekämpfung zu beweisen, ohne von Zweitrundeneffekten überrollt zu werden. Für Christine Lagarde, die vor Jahresfrist beim European Banking Congress die Inflation noch für „vorübergehend“ hielt und EZB-Zinserhöhungen für 2022 als „sehr unwahrscheinlich“ bezeichnete, wird es die letzte Chance sein, ihren ramponierten Ruf zu heilen und das bei vielen Menschen verloren gegangene Vertrauen in die Geldpolitik der EZB zurückzugewinnen.

c.doering@boersen-zeitung.de

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