Italien

Melonis Hoffnung ist Europa

Italiens Premierministerin Giorgia Meloni hat ihre europakritische Haltung aufgegeben. Denn das Land ist von EU-Hilfen abhängig – und hofft auf neue Zugeständnisse aus Brüssel.

Melonis Hoffnung ist Europa

Italiens Premierministerin Giorgia Meloni hat Europa positiv überrascht. Seit ihrem Amtsantritt Ende Oktober 2022 hat sie ihren europakritischen Kurs größtenteils ad acta gelegt. Selbst in Sachen Flüchtlingspolitik gibt sie sich konzilianter. Im Ukraine-Krieg steht sie fest an der Seite der Nato-Partner. Im Hinblick auf den europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, den Italien als einziges Land noch blockiert, gibt sie sich kompromissbereit. Und für 2023 hat sie einen Haushalt vorgelegt, der für Brüssel akzeptabel ist. In Sachen Wachstum steht das Land in Europa seit 2021 mit an der Spitze.

Doch das positive Bild ist trügerisch. Die hohen Wachstumsraten beruhen auf einem Nachholeffekt nach 20 Jahren Stagnation und einer massiven Schrumpfung der Wirtschaft um 9 % im Coronajahr 2020. Rom profitiert von den umfangreichen Hilfen des europäischen Wiederaufbauprogramms, dessen größter Nutznießer Italien mit fast 200 Mrd. Euro ist. Eine schier unübersehbare Vielzahl von Boni hat das Wachstum 2021 und 2022 aufgebläht. Extremstes Beispiel dafür sind die unter Premier Giuseppe Conte eingeführten riesigen Steuergutschriften für ökologische Sanierungen im Bausektor, die den Staatshaushalt bisher 120 Mrd. Euro gekostet haben, und es wird noch teurer. Die Regierung musste die Maßnahme abrupt stoppen.

Italien ist mit 144,7% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) hoch verschuldet. Die steigenden Zinsen und der Spread zu deutschen Bonds schränken Melonis Handlungsspielraum stark ein, und die Wachstumsrate ist deutlich zurückgegangen. Teuere Vorruhestandsregelungen belasten die Kassen. Italien gibt mit 16% des BIP viel mehr für das Rentensystem aus als andere Länder. Die demografische Entwicklung ist katastrophal. Dennoch gehen die Italiener mit durchschnittlich 62 Jahren in Rente. Das Ufficio parlamentare di bilancio, eine Einrichtung, die über die Nachhaltigkeit der Finanzen wachen soll, erwartet, dass der Schuldenstand bis in 20 Jahren auf 166,5% steigt. Mögliche externe Schocks sind nicht berücksichtigt. Immer wieder leisten sich Regierungen teure und unnütze Maßnahmen wie das Bürgereinkommen unter Conte 2019, das Meloni zurückgedreht hat. Stattdessen hat sie jetzt eine Steuerreform auf den Weg gebracht, die zu deutlichen Mindereinnahmen führen wird, nicht gegenfinanziert und sozial unausgewogen ist. Die Premierministerin will damit das Wachstum ankurbeln und so die Einnahmen erhöhen.

Italien muss endlich anfangen, eine nachhaltige und glaubwürdige Politik einzuleiten und die echten Probleme anzugehen, an die sich auch Mario Draghi nicht herantraute: Die lahme Verwaltung und die Justiz mit ihren byzantinischen Verfahren reformieren, eine Digitalisierung auf den Weg bringen und das Rentensystem auf eine tragfähige Grundlage stellen. Dazu kommen strukturelle Probleme wie die seit vielen Jahrzehnten ungelöste hohe Jugendarbeitslosigkeit oder die Entwicklung des abgehängten Südens, der trotz Hunderter Milliarden Euro an Hilfen immer weiter zurückfällt. Es kommt hinzu, beschlossene Reformen müssen auch umgesetzt werden: eine Katasterreform oder mehr Konkurrenz im Dienstleistungssektor, etwa bei Strandbädern, im Taxisektor, bei Dienstleistungen in den Häfen. Italien setzt europäische Richtlinien teilweise seit Jahrzehnten nicht in nationales Recht um.

Nur wenn sich etwas bewegt, lässt sich der Investitionsstau nachhaltig lösen und die seit 20 Jahren stagnierende Produktivität erhöhen. Erstmals seit 1945 gibt es eine Regierung, die gute Chancen hat, fünf Jahre durchzuhalten. Doch angesichts ihres eingeengten handelspolitischen Spielraums ruhen Melonis Hoffnungen auf Europa, etwa bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Sie hat ihre europafeindliche Haltung nur aufgegeben, weil Italien von europäischen Hilfen abhängig ist. Das zweitgrößte Industrieland der EU ist nicht in der Lage, überzeugende Projekte für die europäischen Gelder zu entwickeln. Es fehlen häufig Sachkenntnisse, Strukturen und Personal, und für viele Ausschreibungen gibt es keine Bewerber.

Meloni setzt auf Hilfsgelder aus Europa, möglichst nicht nur neue Kredite durch gemeinsame europäische Schuldenaufnahme, sondern Zuschüsse ohne lästige Bedingungen. Brüssel und Berlin sollten hart bleiben. Denn Rom hinkt nicht nur bei der Umsetzung von Reformen hinterher, sondern kann Gelder aus dem europäischen Wiederaufbauprogramm oder dem Kohäsionsfonds gar nicht ausgeben. Es wäre ein verheerendes Signal, weiteres Geld hinterherzuwerfen. Italien muss selbst handeln.

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