Russische Rüstungsindustrie kämpft mit allen Tricks
In Russlands Establishment gibt es nicht viele, die Kremlchef Wladimir Putin ungestraft widersprechen dürfen. Und wenn sie in irgendeinem Punkt gegen ihn opponieren, heißt das auch noch lange nicht, dass er auf sie hört. Von dem KGB-geschulten Hardliner der reinsten Sorte und amtierenden Chef des Nationalen Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew, weiß man etwa inzwischen, dass er, obwohl er den Westen und die Ukraine nicht mag, im vergangenen Jahr nach Abschätzung der Kräfteverhältnisse gegen einen Einmarsch dort war. Ein anderer KGB-geschulter Weggefährte und Top-Einflüsterer Putins wiederum hat schon sehr bald nach Beginn des Krieges für Aufsehen gesorgt, indem er dazu aufgerufen hat, dass Russland Teil der globalen Welt bleiben müsse – denn der Versuch, in einer wirtschaftlichen Isolation alles selbst herzustellen, wozu immer wieder euphorisch aufgerufen wird, sei „ein Weg ins Nirgendwo“. Seinem Nahverhältnis zum Kremlchef hat das nicht geschadet. Eher im Gegenteil. Und das hat seinen Grund.
Sergej Tschemesow nämlich, von dem hier die Rede ist, gilt als Oberaufseher über den Rüstungssektor. Und neben der Öl- und Gasbranche hat in Russland derzeit kein Wirtschaftssegment größere Relevanz. „Dorthin ist auch früher immer viel Geld geflossen, und jetzt eben umso mehr“, sagt Waleri Solowej, langjähriger Professor an der Moskauer Diplomatenakademie und führender Kenner der Geheimdienst- und Militärelite, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung: „Tschemesow gilt als Intellektueller unter den zehn, zwölf einflussreichsten Leuten um Putin herum und wird von ihm sehr respektiert“.
Mehr als 900 Betriebe
Allein die von Tschemesow geleitete staatliche Holding Rostec mit über einer halben Million Mitarbeitern umfasst mehr als 800 Unternehmen, die großteils für das Militär produzieren. Alexander Golz, russischstämmiger Experte für Militär und Rüstung am Schwedischen Institut für Auswärtige Politik, beziffert im Gespräch mit der Börsen-Zeitung die Zahl der russischen Rüstungsbetriebe mit über 900 vor dem Krieg. Wie viele jetzt dazugekommen seien, sei schwer zu sagen.
Doch selbst wenn neue Werke in Betrieb genommen wurden: „Russland ist mit einem Krieg konfrontiert, den es so nicht erwartet hatte. Er wird geführt wie im Industriezeitalter“, sagt Golz mit Verweis auf die hohen Materialverluste: „Die russische Rüstungsindustrie kann daher mit dem riesigen Bedarf an Waffen und Munition nicht mithalten. Wie übrigens der Westen auch, der die Ukraine beliefert.“
Dabei verbraucht die Ukraine nur einen Bruchteil dessen, was Russland in die Schlachten wirft. Bei ukrainischen Artilleriegeschossen seien es zwischen 2000 und 7000 pro Tag, geht aus einer Analyse hervor, die das estnische Verteidigungsministerium dieser Tage EU-intern verbreitet und aus dem die ZDF zitiert hat. Russland verbrauche demnach zehnmal so viel – also zwischen 20000 und 60000.
Um auf beiden Seiten die Versorgung mit Waffen und Munition zu sichern, rauchen allseits die Köpfe. Die Ukraine, die eine Million Geschosse fordert, leidet unter den mangelnden Produktionskapazitäten im Westen, zu deren Erweiterung es keine schnelle Lösung gibt, wie auf dem Treffen der EU-Verteidigungsminister am Mittwoch klar wurde. Die europäische Rüstungsindustrie könne gerade einmal 20000 bis 25000 Geschosse produzieren, heißt es im estnischen Rundbrief: pro Monat.
Wie viel Russland schafft, ist im Detail nicht bekannt. Faktum scheint, dass es den Einsatz von Geschossen seit dem Herbst stark reduziert hat und „nur“ noch 23000 Geschosse pro Tag abfeuert, wie der Oberbefehlshaber der Nato-Streitkräfte Christopher Cavoli kürzlich sagte. Trotzdem könne Russland deren Verbrauch nicht mehr ausreichend kompensieren, hieß es schon im Herbst im Geheimdienst-Update des britischen Verteidigungsministeriums.
Schwierig, nicht unmöglich
Und dennoch warnen Beobachter wiederholt, Russlands Rüstungsindustrie zu unterschätzen. In der Tat arbeiten die Fabriken, über die Putins Ex-KGB-Kollege Tschemesow wacht, auf Hochtouren, oftmals im Vierschichtbetrieb. Und gleichzeitig konnten ihr – so wie der gesamten Wirtschaft – die westlichen Sanktionen bisher weniger anhaben als prognostiziert.
Das liegt nicht nur daran, dass einheimische zivile Firmen wie etwa Stahlkonzerne am Ural nun mehr als vorher den Rüstungssektor bedienen, wie Natalja Subarewitsch, eine der renommiertesten Ökonominnen Russlands, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung sagt. Es liegt wesentlich daran, dass die Sanktionen von findigen Unternehmern und kooperationsbereiten Staaten umgangen werden und Russland so auch zu den Hightech-Komponenten kommt, die es selbst nicht produzieren kann. Zwar werde es mit jedem Jahr schwieriger, diese Einfuhren zu bewerkstelligen, aber „2022 ist der Import von Chips gegenüber dem Jahr davor trotz Sanktionen sogar gestiegen“, sagt Natalja Subarewitsch. Selbst aus der EU und den G7-Staaten würden fortschrittliche Chips und integrierte Schaltkreise, die für militärische Zwecke verwendet werden können, über Drittstaaten wie die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kasachstan nach Russland gelangen, schreibt Bloomberg unter Verweis auf einen hochrangigen EU-Diplomaten und auf Handelsdaten.
Ist Russlands Rüstungsindustrie bei den Hightech-Komponenten auf den Import angewiesen, nachdem der Aufbau einer eigenen Produktion nach der Krim-Annexion 2014 gescheitert war, so wurde sie zuletzt immerhin beim Humankapital zu Hause fündig. Der Schachzug, den die Verantwortlichen dafür ausheckten, hat es freilich in sich und ist an Zynismus schwer zu überbieten. „Qualifizierte junge Techniker und IT-Fachleute, die in die Rüstungsindustrie wechseln, werden von einer Einberufung ins Militär befreit“, erklärt Subarewitsch. Damit wird indirekt auch der Massenauswanderung junger Männer, wie sie seit der Teilmobilmachung Ende September zu beobachten war, entgegengewirkt. „Ohne Krieg war das hohe Durchschnittsalter im Rüstungssektor noch kein Problem, und Russlands technisches Potenzial hätte durchaus gereicht, wenn die Ukraine nicht mit westlichen Waffen versorgt würde“, sagt Militärexperte Golz: „Jetzt aber wird das Know-how der Jüngeren gebraucht.“
Wie viele von ihnen in die Waffenproduktion wechselten, ist statistisch nicht erfasst. Lediglich an den vielen Stellenausschreibungen lässt sich der Bedarf ablesen. „Ich weiß, dass in den Rüstungsbetrieben am Ural viele Posten ausgeschrieben waren und jetzt besetzt sind“, erzählt Subarewitsch: „Nicht nur IT-Techniker gingen dorthin, sondern Facharbeiter aller Art. Denn zusätzlich zum Schutz vor einer Einberufung werden auch höhere Löhne bezahlt.“
Panzer werden aufgehübscht
Arbeit gibt es genug, solange Putin seinen Angriffskrieg weiterführt. Und weil keine neuen Waffen in der Eile entwickelt und in der nötigen Stückzahl produziert werden können, werden zumindest die alten modernisiert. Wie das funktioniert, zeigt ein Blick in Uralwagonsawod, Russlands einzige Panzerfabrik. Ebendort werden monatlich gerade einmal 20 neue Kampfpanzer vom moderneren Typ T-90 hergestellt, wie russische Medien berichten. Aber da der Bedarf an Panzern zehnmal so groß sei, würden derzeit monatlich an die acht Panzer vom älteren Typ T-72 modernisiert. In drei anderen Werkstätten würden etwa 50 pro Monat modernisiert, In zwei weiteren, die gerade aufgebaut werden, demnächst gut 30 pro Monat.
Russland holt also aus den Lagern, was das Zeug hält, weil die Aufrüstung der älteren Modelle billiger und einfacher ist, als neue zu produzieren. Der als Wunderpanzer bezeichnete modernste Typ T-14 Armata ist demnach nur in kleiner Stückzahl vorhanden und möglicherweise überschätzt, wie westliche Experten urteilen. Stattdessen werden selbst die 60 Jahre alten T-62-Modelle aus den Lagern hervorgekramt. Zahlen darüber, wie viele alte Panzer sich insgesamt dort befinden, gibt es nicht. Zum Ende der Sowjetunion vor gut 30 Jahren seien es etwa 60000 gewesen, erklärt Rüstungsexperte Golz. Und fügt ganz allgemein hinzu: „In einer solchen Materialschlacht wie jetzt in der Ukraine ist es allemal sinnvoller, zwei alte Panzer als einen neuen einzusetzen.“
Von Eduard Steiner, Moskau