Belarus und Russland

Aus der „Mittellage“ in die Arme Moskaus

Das Verhältnis zwischen den Bruderstaaten war immer eine Art Hassliebe. Lange konnte Lukaschenko Moskau zu Zugeständnissen erpressen, weil er parallel mit der EU flirtete. Damit scheint nun Schluss zu sein.

Aus der „Mittellage“ in die Arme Moskaus

Von Eduard Steiner, Moskau

„Gott hat bestimmt, dass wir zwischen diesen Monstergebilden eingeklemmt sind“: Das entgegnete der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko in einem Gespräch 2009 auf die Frage, wie lange er seine zwiegespaltene Außenpolitik zwischen der Europäischen Union und Russland werde durchstehen können und ob er nicht früher oder später doch die Wahl treffen müsse: „Wir sind zur Rolle der Brücke verpflichtet. Die geografische Mittellage aber ist für uns auch ökonomisch vorteilhaft und bietet uns einen ökonomischen und politischen Hebel.“

Damit scheint es nun – zumindest vorerst einmal – vorbei zu sein. Mit der Geheimdienstoperation, den Ryanair-Flug mit dem oppositionellen Blogger Roman Protassewitsch nach Minsk umzuleiten, habe Lukaschenko nicht nur EU-Sanktionen geerntet, er werde wohl keine Partner mehr im Westen finden, meint Hans-Georg Heinrich, Chef des Wiener Osteuropa-Thinktanks ICEUR und einer der intimsten Kenner von Belarus, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. „Der Westen ist für Lukaschenko tot“, sagt auch Jaroslaw Romantschuk, Leiter des Minsker Forschungsinstituts „Mises Center“ und 2010 Kandidat bei den Präsidentenwahlen, auf Anfrage.

In Moskaus Einflusszone

Demnach ist auch die Frage sekundär, ob die Flugzeugentführung von zwei russischen Geheimdienstagenten durchgeführt wurde, wie kolportiert wird, oder vom belarussischen KGB, der eng mit den Russen zusammenarbeitet: Primär sei, dass Belarus „nie so nah dran gewesen ist, seine Souveränität an Moskau zu verlieren“, wie Romantschuk es formuliert.

Über alle Jahre über war die Beziehung zwischen den beiden Bruderstaaten eine Art Hassliebe. Die Aussage von Kremlchef Wladimir Putin, er spiele mit Lukaschenko „langfristig“, war de facto nur eine Umschreibung der von allen Seiten – auch vom Westen – anerkannten Tatsache, dass Belarus in die Einflusszone Russlands gehört. Untermauert wurde dies durch den bereits 1996 ins Leben gerufenen Staatenbund, der allerdings nur sehr eingeschränkt verwirklicht worden ist. Die verbreitete Ansicht, dass der seit 1994 regierende und wohlgemerkt stets Russisch sprechende Lukaschenko sich vehement gegen die Annäherung an Russland wehrte, teilt Kirill Koktysch, Belarus-Experte an der Moskauer Diplomaten-Akademie MGIMO, so nicht: Lukaschenko habe einfach immer hoch gepokert und den maximalen Preis erzielt, indem er sich zwischen Europa und Russland hin und her gewendet habe, sagt Koktysch im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. „Lukaschenko bekam immer, was er wollte.“

Abhängig bei Öl und Gas

Vor allem von Moskau. Rein wirtschaftlich äußerte sich dies etwa darin, dass das rohstoffarme Belarus Erdöl und Erdgas weit unter Weltmarktpreisen bezog. Gewiss, die Abhängigkeit von Russland, dem mit Abstand wichtigsten Export- und Importpartner, stieg dadurch immer weiter an. Zuletzt wieder einen Schritt, als Lukaschenko im vergangenen Jahr innenpolitisch unter Druck kam und Moskau ihn – auch mit neuen Krediten – weiter stützte.

Für Putin vorrangig war stets, dass Belarus sicherheitspolitisch als loyaler Puffer zur Nato fungierte. Ähnlich wichtig war ihm freilich, dass sich keine der in Moskau gefürchteten Farbenrevolutionen in Minsk wiederholte. Ob der Kremlchef über die Sicherheitspolitik hinaus strategisch eine beschleunigte Integration beider Staaten verfolgte, wozu etwa russische Geschäftsleute drängten, die auf Leckerbissen einer möglichen Privatisierung des belarussischen Staatskapitalismus schielen, oder nicht: Fakt sei, dass der Prozess der Annäherung stets in Gang gewesen und im vergangenen Jahr beschleunigt worden sei, erklärt Koktysch. Vor knapp zwei Monaten nun ist es zur Unterzeichnung von 26 konkreten Roadmaps zur weiteren Integration im Rahmen des Staatenbundes gekommen. Nur eine Handvoll solcher Roadmaps steht noch aus.