SERIE: REFORMPOLITIK IN DER EUROZONE (7) - ESTLAND, LETTLAND, LITAUEN

Baltische Länder nach tiefem Absturz wieder auf stabilem Wachstumskurs

Starker Wille zur EU-Integration - Arbeitsmarkt erholt sich verzögert - Unverständnis für griechischen Widerstand gegen Strukturreformen

Baltische Länder nach tiefem Absturz wieder auf stabilem Wachstumskurs

Von Grzegorz Sielewicz und Erich Hieronimus *)Die letzten zehn Jahre waren für die drei baltischen Staaten eine Achterbahnfahrt. Zuerst hohe Wachstumsraten, dann eine tiefe Rezession, schließlich eine extreme, schmerzhafte und zugleich effektive Konsolidierung der Finanzen. Und nun? Als größtes Problem bleibt die Arbeitslosigkeit. Sie hat auch dazu geführt, dass viele junge, motivierte Menschen die Länder verlassen haben.Nachdem Estland, Lettland und Litauen relativ schnell den Wandel von kommunistischen Planwirtschaften als Teil der UdSSR zu Mitgliedern der Europäischen Union geschafft hatten, wurden sie von der globalen Krise 2008/2009 und ihren Folgen besonders getroffen. Die abrupt versiegte Liquidität und die Probleme der internationalen Banken schlugen auf die kleinen, aber sehr offenen Volkswirtschaften besonders hart durch. Diese zeigten aber einen starken Willen, aus eigener Kraft die Finanzen zu konsolidieren und dem Einbruch des Exports aktiv entgegenzuwirken. Ein Mittel dazu: interne Abwertung durch Anpassung und Reformen.Denn auf dem Weg, Euro-Länder zu werden, war es den drei Staaten natürlich nicht mehr möglich, über eine Abwertung der Währung die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Also musste an anderen Stellschrauben gedreht werden, um auf den internationalen Exportmärkten irgendwie handlungsfähig zu bleiben. Hier zeigt sich, ob ein Land, eine Volkswirtschaft reaktions- und reformfähig ist. Deutschland hat sich vor der Finanz- und Wirtschaftskrise – unter anderem – mit Reformen eine vergleichsweise stabile Position verschafft. Aktuell gelingt es Spanien zusehends, sich aus der Krise herauszuarbeiten – dank Maßnahmen, die auf Konsolidierung und Wettbewerbsfähigkeit zielen.Die baltischen Staaten haben sich immer mit ganzer Kraft dafür eingesetzt, ein fester Bestandteil der EU zu werden. Nicht nur aus wirtschaftlichen Motiven, sondern auch und nicht zuletzt aus einer starken politischen Motivation heraus. Dies und der Beitritt in den Wechselkursmechanismus (WKM II) mit dem Euro 2004/2005 führte zu starken Kapitalzuflüssen. Stimuliert durch Niedrigzinsen erlebten die “Baltischen Tiger” einen wahren Kreditboom. Die Wachstumsraten beschleunigten sich. In Lettland etwa legte das BIP von 2004 bis 2007 im Schnitt über 10 % im Jahr zu. Haupttreiber war der private Konsum, dank einer Arbeitslosenquote zeitweilig unter 5 %. Die starke Nachfrage ließ indes die Inflation auf 14 % Ende 2007 steigen. Vom Absturz erholtDann der Abschwung. Die globale Finanzkrise führte zu einem Abzug ausländischen Kapitals, besonders seitens der Banken, die zuvor noch kräftig investiert hatten. Auch die inländischen Wachstumskomponenten erlahmten – auch, weil kaum mehr Kredite zu bekommen waren. Die öffentlichen Haushalte gerieten in Schieflage, Lettland musste auf die Unterstützung des IWF, der EU und der Weltbank zurückgreifen.Anders aber als Griechenland arbeiteten die baltischen Länder aktiv gegen die Abwärtsentwicklung. Das Ziel: die Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Da die Kriterien zum Euro-Beitritt zu befolgen waren, setzten die Regierungen auf das Rezept “interne Abwertung”, primär durch Reduzierung der Arbeitskosten. Die Nebenwirkung: Einschnitte unter anderem bei den Löhnen, stark sinkende Zuversicht bei Verbrauchern und Unternehmen und rasant ansteigende Arbeitslosenzahlen. Zudem führte die von den Geldgebern geforderte Konsolidierung der Finanzen zu Erhöhungen der indirekten Steuern und geringeren Abführungen von Rentenbeiträgen an privat verwalteten Fonds.Die durchaus schmerzhaften Einschnitte dieser Reformpolitik waren allerdings der notwendige Schlüssel zu größerer Wettbewerbsfähigkeit. Zur finanziellen Konsolidierung wurden harte Einschnitte auch im öffentlichen Sektor vorgenommen, unter anderem Personalabbau und Gehaltskürzungen. In Lettland verstärkten die strikten Auflagen von IWF, EU und Weltbank den Reformprozess. Das IWF-Abkommen mit Lettland zielte mit vielen Maßnahmen darauf ab, die Einführungsvoraussetzungen für den Euro möglichst rasch zu erfüllen. Eine Währungsabwertung war als Stellschraube längst ausgeschieden.Schon die Aussicht auf die Euro-Einführung war für die baltischen Länder ein wichtiger politischer Stabilitäts- und Disziplinierungsfaktor. Wirtschaftlich profitierten sie von ihrem relativ diversifizierten Export, vor allem nach West- und Nordeuropa, aber auch nach Osteuropa, weiterhin vor allem nach Russland. Der Exportanteil am BIP beträgt in Estland und Litauen auch heute noch über 80 %.Dennoch bleibt der private Konsum der Haupttreiber des Wachstums. Der Euro ist mittlerweile gängiges Zahlungsmittel. Auf Estland 2011 und Lettland 2014 folgte Litauen Anfang dieses Jahres mit seiner Einführung. Und derzeit sind die wirtschaftlichen Indikatoren recht positiv. Neben wieder sinkenden Arbeitslosenquoten – Estland hatte im Juni 2015 noch 6,5 % – und steigenden Löhnen tragen Faktoren wie leichte Einkommenssteuersenkungen oder Anhebungen des Mindestlohns in Litauen zum Konsum bei. Insgesamt wächst die Wirtschaft des Baltikums wieder.Zwar kann das BIP nicht so rasant wie 2011 bis 2013 nach der Krise zulegen, da die äußeren Faktoren nicht dazu beitragen, insbesondere nicht aus Russland. Aber das Wachstum ist recht stabil. Coface erwartet 2015 für Estland 2,5 %, 2,3 % für Lettland und 2,9 % für Litauen. Nächstes Jahr dürfte sich das Wachstum dann noch einmal beschleunigen auf 3,0 % in Estland und Lettland sowie 3,3 % in Litauen. Junge Menschen wandern abDennoch braucht es für einen stabileren Aufschwung weitere Verbesserungen in den Ländern selbst. Der Fokus liegt dabei auf dem Arbeitsmarkt, der sich während der Krise zwar als äußerst flexibel erwies, heute aber noch nicht wirklich wieder gefestigt ist. Denn obwohl die Arbeitslosenquoten gegenüber dem Krisenhoch mit zeitweise über 20 % wieder moderater ausfallen, sind sie besonders unter jungen Menschen noch hoch. So empfiehlt die Europäische Kommission wie auch die OECD aktive Maßnahmen zur Belebung und Stabilisierung des Arbeitsmarktes.Die Regierung in Litauen, das besonders von der Abwanderung von ausgebildeten Arbeitskräften betroffen ist, verfolgt das Ziel, das starre Arbeitsrecht zu reformieren und die Steuern auf Arbeit zu senken. Solche Maßnahmen könnten auch in Lettland und Estland helfen, die Binnenkonjunktur zu beleben. Litauen kämpft zudem mit weiteren gesellschaftlichen Problemen wie einem partiellen Anstieg der Armut und sozialer Ausgrenzung. Neben einer aktiven Arbeitsmarktpolitik könnten stärkere Investitionen in Forschung und Entwicklung wesentliche Impulse für die Wirtschaft setzen und zugleich einen weiteren Entwicklungsschritt einleiten. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die baltischen Länder, sondern im Grunde für alle Länder in Mittel- und Osteuropa. Fördermittel der EU könnten hier – bei zielgerichteter Verwendung – eine große Chance eröffnen.Für Lettland gilt es unter anderem auch, Barrieren für inländische Unternehmen abzubauen. Allerdings wurden zuletzt Registrierungs-, Bank- und Notargebühren erhöht. Auch der Kampf gegen Korruption wird nicht entschieden genug geführt. Ebenso notwendig wäre eine größere Transparenz und Effizienz des Gerichtswesens. Während Estland und Litauen in der Bewertung des Geschäftsumfeldes durch Coface bereits die zweitbeste Bewertungskategorie “A2” erreichen, steht Lettland hier noch auf “A3”. Auch in der Coface-Gesamtbewertung bildet Lettland mit “B” das Schlusslicht unter den Balten. Estland und Litauen stehen mit “A3” bzw. “A4” bereits auf Investment Grade.Doch auch beim baltischen Primus gibt es noch einiges zu tun: Reformen in Estland sollten darauf abzielen, das Wohlfahrtssystem für größere Teile der Bevölkerung zu öffnen. Ungleiche Behandlung zeigt sich auch bei der Besteuerung von Arbeitnehmern. Estland, bekannt für seine IT-Branche und hoch qualifizierten IT-Fachkräfte, müsste seine Innovationspolitik auf noch mehr Unternehmen ausweiten und nicht so sehr auf die großen konzentrieren. Blessuren verheilenDer weit verbreitete und deutlich vernehmbare Unmut in den baltischen Ländern über die Stützungspolitik für Griechenland kommt also nicht von ungefähr. Denn die Reformprogramme in den drei Ländern waren ebenso schmerzhaft wie konsequent. Kraft eines starken politischen Willens setzte man auf Selbstheilung. Die externe Unterstützung wurde als Hilfe zur Selbsthilfe gerne angenommen. Das Baltikum hat sich von seinem Absturz erholt, und die größten Blessuren sind inzwischen abgeheilt. Weitere Anstrengungen in Form von Reformen zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes und Belebung der Binnenkonjunktur sind aber nötig. Sie sind sicherlich nicht unbedeutend, im Vergleich mit den umfassenden Einschnitten der vergangenen Jahre aber weniger existenzieller denn stimulierender und stabilisierender Natur.—-*) Grzegorz Sielewicz ist Coface-Economist für Mittel- und Osteuropa, Erich Hieronimus ist Pressesprecher und Manager Kommunikation bei Coface.Zuletzt erschienen: – Portugal (21. August)- Niederlande (26. August)- Italien (28. August)Nächster Teil: Österreich