Besser spät als nie
Wenn keine große Überraschung passiert, wird die Europäische Zentralbank (EZB) im Juli erstmals seit – dann fast auf den Tag genau – elf Jahren die Leitzinsen anheben. Die zuvor bereits avisierte Zinswende hat der EZB-Rat de facto besiegelt. Der Schritt ist mehr als überfällig. Die EZB hat dem unguten Inflationstreiben schon viel zu lang untätig zugeschaut. Jetzt ist man geneigt zu sagen: Besser spät als nie. Entscheidend ist aber, dass die EZB den in der Form beispiellosen Ankündigungen nun auch entschlossene Taten folgen lässt. Leider sind da immer noch Zweifel angebracht.
Keine Frage: Mit ihrer beispiellos expansiven Geldpolitik in den vergangenen Jahren hat die EZB wesentlich dazu beigetragen, zunächst die Folgen der Weltfinanz- und der Euro-Schuldenkrise und später die Auswirkungen der Corona-Pandemie abzumildern und einen ökonomischen Totalabsturz zu verhindern. Dafür gebührt ihr bei aller berechtigten Kritik im Detail Anerkennung. Auf der Sollseite aber steht, dass es die EZB auch in besseren Zeiten eigentlich nie geschafft hat, aus dem Krisenmodus herauszufinden. Und vor allem, dass sie zuletzt das Inflationsproblem kolossal unterschätzt und sogar kleingeredet hat. Das ist ein historischer Fehler, den es aufzuarbeiten gilt.
Jetzt also soll die längste Phase lockerer Geldpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg zu Ende gehen. Das ist gut. Billionenschwere Anleihekäufe und Negativzinsen sind in Zeiten einer Rekordinflation von 8,1% irrsinnig. Nicht gut ist aber, dass die EZB gestern bereits eine Zinserhöhung um 50 statt 25 Basispunkte im Juli praktisch ausgeschlossen hat. Natürlich wäre ein solcher Schritt kommunikativ eine Herausforderung gewesen. Aber das darf niemals dazu führen, dass etwas nicht getan wird, wenn es ökonomisch nötig ist. Die EZB hätte sich diese Option offenhalten sollen, vor allem für den Fall weiter anziehender Inflationserwartungen. So schürt sie nur verbreitete Skepsis an ihrer Entschlossenheit.
Statt eines Whatever-it-takes-Moments im Kampf gegen die Inflation hält die EZB beharrlich an ihrem Mantra von „Optionalität, Datenabhängigkeit, Gradualismus und Flexibilität“ fest. Nun ist wahrlich niemandem gedient, wenn eine abrupte Kehrtwende die Wirtschaft abschmieren lässt oder die Finanzmärkte in übermäßige Turbulenzen stürzt. Genauso wenig hilft es aber, wenn eine graduelle Normalisierung die EZB immer weiter hinter die Kurve fallen lässt, wie es im Notenbanksprech heißt. Längst stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit der EZB als Hüterin stabiler Preise. Da sollte die EZB besser früher als später klare(re) Zeichen setzen.