LEITARTIKEL

Brasiliens Blues

Im vergangenen Jahr regierte noch die Zuversicht in Brasilien. Obwohl die Wirtschaft weiter schrumpfte, boomte nach der Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff die Börse von Sao Paulo. Am Jahresende stand ein Weltrekord-Plus von 61 %. Die Anleger...

Brasiliens Blues

Im vergangenen Jahr regierte noch die Zuversicht in Brasilien. Obwohl die Wirtschaft weiter schrumpfte, boomte nach der Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff die Börse von Sao Paulo. Am Jahresende stand ein Weltrekord-Plus von 61 %. Die Anleger setzten auf den Reformplan des Übergangspräsidenten Michel Temer, von dessen Finanzminister Henrique Meirelles und einer breiten Parlamentsmehrheit. Zunächst schien das Kalkül aufzugehen, die Inflation fiel, die Zinsen sanken und die Agrarindustrie vermeldete exzellente Erntezahlen.Doch nun, fast genau ein Jahr nach Rousseffs Rauswurf, scheint es, als habe jemand die Rückspultaste gedrückt. Erneut diskutiert Brasilia über die Möglichkeit eines Impeachment gegen einen Präsidenten. Wieder stehen massive Korruptionsvorwürfe im Raum. Und auf den Straßen wird demonstriert wie vor der Fußball-WM 2014.Seit vor einer Woche das Blatt “O Globo” die Existenz einer Audiodatei meldete, auf der Temer einen zwielichtigen Fleischbaron auffordert, Schweigegeld an einen inhaftierten Parteifreund zu zahlen, herrscht Hektik in der Hauptstadt. Weil Temer zunächst alles abstritt, beschloss der beim obersten Gerichtshof Zuständige, die Tonspur zu publizieren, mitsamt mehrerer Justiz-Videos. Auf diesen berichten die Brüder Batista, CEOs von JBS und der Holding J & F, ohne jeden Anflug von Scham, wie sie auf ihrem staatsfinanzierten Weg zum weltgrößten Fleischkonzern 1 824 Politiker schmierten, darunter die Ex-Präsidenten Lula und Rousseff, Abgeordnete, Senatoren – und eben auch Temer, der 4,7 Mill. Reais bekommen haben soll.”Eine Atombombe”, titelten die Medien und gingen von einem Rücktritt aus. Doch Temer blockt. “Sollen sie mich doch stürzen”, sagte er am Montag der “Folha de Sao Paulo”. Der 75-Jährige, ein Champion der Gefälligkeitspolitik, versucht, seine Haut zu retten. Ein Rücktritt würde ihn direkt der Justiz ausliefern, wie seinen Amtsvorgänger Lula, der diese Woche zum fünften Mal angeklagt wurde. Im Amt schützen Temer – vorerst – diverse Mechanismen.Die größte Gefahr droht durch den Generalstaatsanwalt, der den obersten Gerichtshof bat, wegen Behinderung der Justiz, Vorteilsnahme und Bildung einer kriminellen Vereinigung ermitteln zu dürfen. Sollten die Höchstrichter das zulassen, dürfte die Parlamentsmehrheit perdu sein, denn die zwei wichtigsten Koalitionspartner haben von dieser Entscheidung den Verbleib in der Regierung abhängig gemacht.Sollte Temer den Rückhalt verlieren, könnte es im Parlament zu einem Impeachment-Verfahren kommen, das, wie im Vorjahr exerziert, mehrere Monate in Anspruch nehmen dürfte. Allerdings gibt es einen deutlichen Unterschied: Der Parlamentspräsident Rodrigo Maia, der einem der eingereichten Anträge (bislang sind es 13) entsprechen müsste, ist – noch – einer der engsten Alliierten Temers. Er könnte mauern.Ein dritter Weg eröffnet sich am 6. Juni. Da tagt der oberste Wahlgerichtshof über die Finanzierung der Kampagne von Rousseff und Temer 2014. Nachdem sich Hinweise auf Unregelmäßigkeiten ansammelten – allein die Batista-Brüder wollen 70 Mill. Dollar in eine schwarze Kasse für Rousseff gespendet haben -, könnte das Gericht die gesamte Wahl für ungültig erklären und damit auch die Herrschaft des gewählten Vizepräsidenten Temer beenden. In diesem Fall – wie auch nach einem Impeachment – müsste Parlamentspräsident Maia interimistisch übernehmen und binnen 30 Tagen indirekte Wahlen ausrufen. Allgemeine Neuwahlen sieht die Verfassung in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode nicht vor.So müssten Kongress und Senat – durch diverse Korruptionsvorwürfe stark diskreditiert – unter allen über 35-jährigen Brasilianern einen Nachfolger für Temer wählen. Während die Medien nun schon über Nachfolgekandidaten spekulieren, werfen besonnene Beobachter den Blick auf eine wachsende Gefahr: Bei den Demonstrationen gegen Temer fordert die Mehrzahl der Protestierenden Neuwahlen. Aber mehrfach tauchten auch Transparente auf, die Demokratie mit Korruption gleichsetzen oder gar ein Abdanken der gesamten politischen Klasse verlangen. Der dramatische Vertrauensverlust könnte Populisten oder Extremisten den Weg bereiten wie dem Rechtsaußen Jair Bolsonaro. Niemand weiß, wie die Lösung des Problems Temer ausfallen wird. Aber allen ist klar, dass es für Zuversicht keinen Anlass gibt.——–Von Andreas FinkFür Zuversicht gibt es in Brasilien keinen Anlass. Präsident Temer ist in einen Korruptionsskandal verwickelt, die Nachfolgefrage birgt zahlreiche Probleme.——-